Bürgermeister von Mariupol: "Sie reißen mir Herz und Seele heraus"
Vor wenigen Wochen hat der Bürgermeister von Mariupol, Wadym Bojtschenko, noch an einem Plan zur Modernisierung der ukrainischen Hafenstadt gearbeitet, sprach in Hemd und Krawatte über neue Investitionen in Technik, Medizin und Bildung. Am Samstag hat er Unterschlupf gesucht in einem Keller, berichtet über eine wackelige Telefonleitung von der Belagerung der 400.000-Einwohner-Stadt am Asowschen Meer durch das russische Militär.
Er trägt ein T-Shirt, hat dunkle Ringe unter den Augen, eine ukrainische Flagge ist hinter ihm an die Wand geheftet. Ein Großteil der Stadt liege in Trümmern. „Sie zerstören uns“, sagt Bojtschenko. Während des Videotelefonats mit der Nachrichtenagentur Reuters sind von draußen Explosionen zu hören.
Sein Hauptanliegen sei es nun, Einwohnern zur Flucht aus der Stadt zu verhelfen. Die meisten schlafen in Luftschutzkellern. Sechs Tage Beschuss und Belagerung durch die russischen Streitkräfte haben nach Angaben der Behörden die Menschen von der Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser, Strom und Heizmöglichkeiten abgeschnitten. „Sie haben methodisch gearbeitet, um sicherzustellen, dass die Stadt blockiert ist“, sagt der 44-jährige Bojtschenko über die Angreifer. „Sie erlauben uns nicht einmal, die Verwundeten und Getöteten zu zählen, weil der Beschuss nicht aufhört.“
Die meisten können ihre Handys nicht mehr aufladen
Ein Notstromgenerator beleuchtet schwach den Keller, in dem das Team des Bürgermeisters untergekommen ist. Wie viele andere Einwohner hat auch Bojtschenko in den letzten Tagen keinen Kontakt zu seinen Angehörigen gehabt - die meisten können ihre Handys nicht mehr aufladen. Sein Sohn kämpft anderswo an der Front. Aber seine Mutter, zwei Großmütter und die junge Familie seines Bruders sind in Kellerräumen in Mariupol. „Ich kann nicht einmal hingehen, um zu sehen, ob sie noch leben, weil der Beschuss nicht aufhört“, sagt Bojtschenko.
Viele Bewohner der Stadt wollen unbedingt weg. Eine für Samstag geplante Evakuierung musste verschoben werden, weil eine von den Führungen in Moskau und Kiew vereinbarte Feuerpause nicht hielt. Dafür machten sich beide Seiten gegenseitig verantwortlich. Am Sonntag läuft ein neuer Versuch, vom Vormittag bis zum Abend soll eine Feuerpause gelten, ab dem Mittag soll die Evakuierung beginnen.
Die Vereinbarung zur Einrichtung eines Korridors für die Evakuierung sei der erste Hoffnungsschimmer seit der russischen Invasion am 24. Februar gewesen, sagt Bojtschenko. Aber am Samstag zerstört Beschuss der russischen Streitkräfte die Hälfte des Bus-Konvois, den sein Team für die Evakuierung zusammengestellt hatte. „Sie haben uns belogen“, sagt der Bürgermeister. „In dem Moment, als die Menschen versuchten, in diese Korridore zu gelangen, ging der Beschuss wieder los.“
Bojtschenko und die ukrainischen Streitkräfte, die Mariupol verteidigen, haben auch militärische Verstärkung angefordert. Russland werde nicht ablassen von dem Versuch, die Stadt zu erobern. Mit der Einnahme von Mariupol gewänne Russland eine strategische Verbindung zwischen den von Russland unterstützten Separatistengebieten im Norden und dem Landweg zur von Russland seit 2014 annektierten Halbinsel Krim.
Russland bezeichnet sein Vorgehen in der Ukraine nicht als Krieg, sondern als „Sondereinsatz“, der sich gegen militärische Fähigkeiten seines südlichen Nachbarn und vermeintliche Nationalisten richte.
Die Hafenstadt ist mittlerweile vom Krieg gezeichnet. Raketen und Artilleriebeschuss haben Fenster in Wohnblocks zerstört, Löcher in Gebäude gesprengt und Straßen aufgerissen, wie im Internet verbreitete Fotos zeigen, von denen Reuters einige überprüfen konnte. Mit der Zerstörung ist auch Bojtschenkos Plan zur Modernisierung der Stadt zunichtegemacht.
"Jetzt nehmen sie uns unsere Zukunft"
Er hat sich vom Lokführer im örtlichen Stahlwerk bis in die Führungsetage hochgearbeitet, wurde 2015 Bürgermeister, um an der Zukunft der Stadt zu bauen. „Wir haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Menschen ein angenehmes Leben führen und von der Zukunft träumen können. Und jetzt nehmen sie uns diese Zukunft“, sagt Bojtschenko, während die Videoverbindung immer wieder abreißt. „Im Moment habe ich das Gefühl, dass sie mir mein Herz und meine Seele herausreißen.“
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