Tunesier wählen zum ersten Mal

Tunesier wählen zum ersten Mal
Das erste Land des Arabischen Frühlings ruft zum Urnengang auf. In die Freude mischt sich Angst vor den Islamisten.

Wählt nicht!", steht groß in einer Sprechblase auf dem roten Plakat. Und kleiner: "Ich kümmere mich schon um euch." Die Sprechblase führt zu einer Karikatur des ehemaligen Diktators Ben Ali. Das Plakat hängt mit ein paar anderen in einer Galerie im Zentrum der tunesischen Hauptstadt. Die Ausstellung wurde vom Kulturminister initiiert, um die Tunesier zum Wählen zu animieren.

Aber in Tunis findet man ohnehin nur wenige, die nicht zur Wahl gehen. "Das ist das erste Mal", sagt Salaa. Der 56-Jährige war in seinem Leben noch nie wählen. Ihm kommen fast die Tränen: "Das erste Mal! Können Sie sich das vorstellen?" Salaa hat sich noch nicht entschieden, wem er seine Stimme geben will, doch er wird auf jeden Fall sein Recht ausüben.

Mehr als 1500 Parteilisten stehen Am Sonntag zur Wahl. Kleine, große, einige gar ohne Programm, andere gut organisiert. Ein paar Punkte haben sie aber gemeinsam: Alle wollen Arbeitsplätze schaffen, die Wirtschaft ankurbeln, die Korruption ausmerzen, ein neues Tunesien aufbauen. Wie sie das erreichen wollen, verraten die wenigsten.

Moderate Islamisten

Eine Partei liegt mit Abstand vorne: Ennahdha ("Bewegung"). Die Partei, die unter Ben Ali verboten war und deren Führung sich als moderate Islamisten bezeichnet, hatte in den letzten Umfragen zwischen 25 und 30 Prozent. Ihre Wahlkampfveranstaltungen waren immer gut besucht, die Armenviertel der Hauptstadt wählen am Sonntag fast geschlossen ihre Ennahdha.

Vor allem die Linke und die Mitte fürchtet, dass die konservative Islampartei von Rachid Ghannouchi das Rennen macht. Tunesien ist zu 99 Prozent muslimisch, und viele sind stolz, diese Religion liberal ausleben zu können. Dass Tunesien ein islamisches Land, aber keine islamische Republik ist, unterstrich auch der interimistische Premier Caid Essebsi in den letzten Monaten immer wieder. Ob die Ennahdha die Mandatsmehrheit erreichen wird, ist abzuwarten. Erst dann wird sich zeigen, ob sie sich moderat oder extrem gibt.

Doch egal, wer das Rennen macht, das Wichtigste scheint, dass die Wahl fair, korrekt und transparent über die Bühne geht. Das unterstreicht auch Michael Gahler, Chef der EU-Wahlbeobachter: "Tunesien ist ein Land der Gerüchte. Man dachte immer, hinter der Fassade muss sich noch irgendwas verbergen. Deshalb ist es so wichtig, dass die Auszählung transparent ist. Und nach unserem Eindruck wird das auch der Fall sein."

Ben-Ali-Anhänger

"Ich wähle gar nicht", sagt ein Taxifahrer. "Es bringt nichts! Hoffentlich ändert sich was, aber ich glaube nicht daran." Viele sorgen sich, dass Mitglieder der RCD-Partei Ben Alis nach der Wahl wieder etwas zu sagen haben. Auf fünf Parteien verteilt treten ehemalige Minister und Funktionäre Ben Alis an. "Das wäre schrecklich, da würde die Bevölkerung wieder demonstrieren", prognostiziert der deutsch-tunesische Arzt Samy Allagui.

Mohammed will genau das Gegenteil. Der Student sagt, was sich sonst kaum einer sagen traut: "Ich hoffe, Ben Ali kommt zurück. Er hat das Land 23 Jahre lang sicher gemacht. Ich will, dass die Touristen zurückkommen. Ich kenne 'Demokratie' nicht, wir brauchen Euros. Ich hasse die Islamisten, unter Ben Ali hat es sie nicht gegeben."

Wahlsystem: Was gewählt wird

Verfassung
Gewählt wird eine Nationalversammlung aus 217 Migliedern, die innerhalb eines Jahres eine neue Verfassung ausarbeiten und einen provisorischen Präsidenten wählen soll. 4,1 Millionen Tunesier haben sich für die Wahl registrieren lassen. Für den Rest gibt es die Möglichkeit, sich am Wahltag zu melden.

Ablauf

In 27 Wahlbezirken und 6 Auslandswahlkreisen werden die 217 Mandate vergeben. Es treten 1570 Listen mit 11.000 Kandidaten an. Laut Umfragen liegt die Islampartei Ennahdha weit vorne, dahinter die sozialistische PDP, das FDTL (Forum für Arbeit und Freiheit) und der CPR (Kongress für die Republik).

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