Schon droht der erste Verfassungsstreit

Schon droht der erste Verfassungsstreit
Der neue Präsident will möglichst lange Premier bleiben, um Nachfolge zu regeln.

Recep Tayyip Erdogan hat einen Plan. Nach seinem Sieg bei der Präsidentenwahl am Sonntag will der 60-Jährige so lange wie möglich als Ministerpräsident im Sattel bleiben, um seine Nachfolge als Regierungschef und als Vorsitzender der Regierungspartei AKP regeln zu können. Erst am 27. August, einen Tag vor seiner Vereidigung als Staatspräsident, will Erdogan als AKP-Chef und Premier zurücktreten.

Doch einige Rechtsexperten warnen, Erdogan müsse die Ämter schon bei Veröffentlichung des offiziellen Wahlergebnisses an diesem Freitag aufgeben. Ein Verfassungsstreit droht – der erste von vielen, die Erdogans Präsidentschaft prägen könnten, sagen Beobachter.

Juristischer Kern des Streits ist der Verfassungsartikel 101. Darin ist festgelegt, dass "der zum Staatspräsident Gewählte" seine Parteimitgliedschaft und sein Parlamentsmandat verliert. Allerdings legt der Paragraf nicht fest, wann genau die Taue zur Tages- und Parteipolitik gekappt werden müssen. Erdogan und seine AKP legen den Artikel als Erlaubnis für den designierten Präsidenten aus, bis zum Amtseid als Staatschef alle anderen Ämter behalten zu können.

Die Opposition und manche Experten sehen das ganz anders. Die liberale Verfassungsrechtlerin Serap Yazici etwa warnte, Erdogan breche die Verfassung, wenn er als Ministerpräsident bis zum 27. August weiter Entscheidungen fälle. Yazicis Kollege Ibrahim Kaboglu sprach sogar von einem "Putsch". Die Oppositionspartei CHP wandte sich an die Gerichte, um Erdogan zum Rücktritt als Premier zu zwingen.

Ein rascher Amtsverzicht als AKP-Chef und Ministerpräsident würde Erdogan überhaupt nicht passen. Er möchte die Zügel bis zuletzt fest in der Hand behalten, der AKP-Parteitag zur Wahl des neuen Chefs ist auf den 27. August terminiert. Der Erdogan-treue Außenminister Ahmet Davutoglu gilt als aussichtsreichster Kandidat für Parteivorsitz und Ministerpräsidentenamt.

Konkurrent Gül

Doch es knirscht in der AKP. Die Ankündigung des scheidenden Präsidenten Abdullah Gül, in die Partei zurückzukehren, hat genau jene Personaldiskussion losgetreten, die Erdogan vermeiden wollte. Gül könnte es in der AKP von der politischen Statur her mit Erdogan aufnehmen. Nach einer Meinungsumfrage wollen drei von vier AKP-Mitgliedern Gül an der Spitze der Partei. Doch Erdogan kann keinen zweiten starken Mann brauchen: Als Staatschef will er Partei und Regierung fernsteuern.

Erdogan-Getreue in der AKP sehen eine Rückkehr Güls deshalb als Bedrohung. Der Abgeordnete Samil Tayyar warf Gül vor, sein Ego über die Partei zu stellen.

Für Politiker wie Tayyar ist Erdogan schon jetzt eine lebende Legende, bei der sich alles andere als bedingungslose Loyalität verbietet. Der Personenkult um Erdogan in AKP und Regierung nimmt fast täglich zu. Verkehrsminister Lütfi Elvan deutete gestern an, dass der geplante neue Flughafen in Istanbul – der nach den Entwürfen der größte der Welt werden soll – den Namen "Recep Tayyip Erdogan" erhalten könnte.

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