Türkei: Gerüchte verstärken Flüchtlingsstrom nach Europa

In südtürkischen Küstenstädten wie etwa Bodrum (Bild) floriert der Verkauf von Schwimmwesten an Flüchtlinge, die von Schleppern auf kleinen Schlauchbooten auf die nahe gelegenen Griechischen Inseln übergesetzt werden.
Aus Angst vor Abschiebung wollen Syrer, Iraker und Pakistaner schnell weiter, über Griechenland nach Westeuropa. 1100 Dollar kostet eine Schlauchbootpassage.

Karani Nawal hat einen weiten Weg hinter sich – doch er ist noch nicht am Ziel. Der 32-Jährige ist vor zwei Jahren aus Pakistan in die Türkei gekommen und sitzt jetzt in der Ägäis-Stadt Bodrum, um über das Meer nach Griechenland zu gelangen. Drei Mal hat er die Überfahrt schon gewagt, beim letzten Versuch verlor er sein gesamtes Hab und Gut, weil das mit ihm und anderen Flüchtlingen voll besetzte Schlauchboot kenterte. Seine Schwimmweste rettete ihm das Leben. Aber ans Aufgeben denkt Nawal nicht. "Was sollen wir denn tun? Wir werden es noch einmal versuchen."

Die Türkei ist schon lange ein Transitland für Menschen aus Nahost, Asien und Afrika, die nach Europa wollen. Aber die Zahl der Flüchtlinge, die sich in den vergangenen Wochen an der türkischen Ägäis-Küste versammeln, stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten. Die türkische Küstenwache hat innerhalb eines Monats mehr als 18.000 Flüchtlinge aus dem Wasser gerettet. Allein in der Woche vom 10. bis zum 17. August waren es knapp 5300 Menschen. Seit Jahresbeginn liegt die Zahl bei 36.511 und damit fast drei Mal so hoch wie im gesamten vergangenen Jahr.

Zwei Millionen Syrer

Aus Sicht der Türkei ist die Lage an der Ägäis nur eine von vielen Facetten des großen Flüchtlingsproblems, mit dem sie sich herumzuschlagen hat. Das Land bietet knapp zwei Millionen Syrern und mehr als 200.000 Irakern Zuflucht. Bisher konnten die Neuankömmlinge noch relativ gut in den Alltag integriert werden, doch nun wird die Wirtschaftslage zusehends schwieriger. Die Arbeitslosigkeit steigt, bezahlbarer Wohnraum wird knapp. Selbst in einer Stadt wie Samsun am Schwarzen Meer, die weit von der syrischen Grenze entfernt liegt, melden Makler eine Verdopplung der Mietpreise, weil syrische Flüchtlinge und Studenten auf dem Wohnungsmarkt zu Konkurrenten werden.

Hinzu kommen die in den vergangenen Wochen stark gewachsenen Massenansammlungen von Flüchtlingen auf den Straßen, Parks und Plätzen von Izmir und anderen Ägäis-Städten. Inzwischen beginnen die Behörden damit, die Menschen einzusammeln; sie sollen in Lager gebracht werden. Doch Mustafa Toprak, der Gouverneur von Izmir, ist Realist genug um zu wissen, dass dies keine dauerhafte Lösung sein kann: "Sie können die Leute in einen Bus stecken und irgendwo hinschicken", sagte er kürzlich. "Aber am Tag darauf sind sie wieder da."

Es gibt mehrere Gründe dafür, dass sich das Flüchtlingsdrama an der Ägäis gerade jetzt so zuspitzt. Da ist zum einen das Wetter: Die Überfahrt vom türkischen Festland zu einer der nahe gelegenen griechischen Inseln ist in den kleinen Schlauchbooten zwar gefährlich, aber das Risiko niedriger als im Winter.

Angst vor Kriegsdienst

Auch Gerüchte heizen die Lage an. Eine Gruppe junger Männer etwa, die in der westtürkischen Stadt Izmir auf ein Boot nach Griechenland warten, fürchtet sich vor einer Abschiebung nach Syrien. Ingenieure, Anwälte, Computerspezialisten – unter den Syrern in Izmir sind viele gut ausgebildete Leute, die ohne Bürgerkrieg in Damaskus eine gute Zukunft vor sich hätten. Doch in den vier Jahren Krieg mit mehr als 250.000 Toten haben sie alle Hoffnungen verloren. "Wir sind geflohen, weil wir nicht eingezogen werden wollten", sagt einer von ihnen der Zeitung Hürriyet. "Wenn wir es innerhalb eines Monats nicht schaffen, wegzukommen, dann wirft uns die Türkei aus dem Land. Wir wären (Präsident) Assads Armee ausgeliefert. Deshalb haben wir keine Angst vor der Fahrt übers Meer."

Dabei gibt es bisher keinen einzigen Fall, in dem die Türkei syrische Flüchtlinge gegen deren Willen nach Hause geschickt hätte. Ankara verfolgt eine sogenannte "Politik der offenen Tür", die jedem Flüchtling aus Syrien eine Zuflucht garantiert. Zwar plant die Türkei die Einrichtung einer Sicherheitszone in Nord-Syrien, in die einige Flüchtlinge zurückkehren sollen. Doch auch dies werde nur auf freiwilliger Basis geschehen, sagt ein hochrangiger Regierungsvertreter.

Illegale Arbeiter

Dennoch wirkt das Gerücht. Andere Gründe für den Flüchtlingsansturm liegen in den Lebensumständen der Syrer in der Türkei selbst. Rund 300.000 von ihnen sind in einem der 27 Flüchtlingslager in der Nähe der syrischen Grenze untergebracht, rund 1,7 Millionen Menschen leben in angemieteten Wohnungen, bei Verwandten oder auf der Straße.

Da der Zustrom aus Syrien anhält, wird das Leben für sie immer schwieriger. Viele verdingen sich als illegale Arbeiter, weil sie keine Arbeitsgenehmigung erhalten. Für umgerechnet zehn Euro am Tag schuften sie auf dem Bau oder auf den Feldern. "Aber manchmal wird man auch überhaupt nicht bezahlt", klagt Fatma Ahmet, Mutter von vier Kindern, die vor ihrer Flucht in Syrien eine gut bezahlte Apothekerin war. Wer sich keine Wohnung leisten kann, für den ist das Überleben in der Türkei schwer. "Dusche und Toilette erledigen wir in den Moscheen", sagt Ahmet, die jetzt ebenfalls nach Griechenland will.

Anfang des Jahres noch machten sogenannte Geisterschiffe Schlagzeilen: Frachter, die auf dem Meer vor der Küste mit Flüchtlingen beladen und per Autopilot Richtung Italien gesteuert werden. Jetzt setzen die Schleuser wieder verstärkt auf kleine Boote in der Ägäis. Rund 1100 US-Dollar kostet ein Platz auf einem der Schlauchboote, die von den Schleppern in kleinen Buchten an der türkischen Ägäisküste bereitgestellt werden.

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