Erdogan ließ sich in Istanbul bejubeln
Dort, wo bis vor kurzem das Zentrum des Protest gegen ihn war, hat der türkische Regierungschef nun seine Anhänger aufmarschieren lassen: Zehntausende Unterstützer des türkischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sind am Sonntag in Istanbul zusammengekommen, um ihre Sympathien für ihn zu bekunden. Mit Bussen wurden sie in die Metropole geholt.
Erdogan: "Taksim-Platz und Gezi-Park gesäubert"
Erdogan warf außerdem internationalen Medien vor, sie würden falsch über sein Land berichten. Der AKP-Chef behauptete, die britische BBC, der US-Nachrichtensender CNN und die Nachrichtenagentur Reuters betrieben Desinformation. In den vergangenen Tagen hatten bereits einige Tageszeitungen aus dem religiösen Spektrum Stimmung gegen ausländische Medien gemacht.
Proteste gehen weiter
Berichte: Erdogan-Anhänger greifen Demonstranten an
Anhänger der islamisch-konservativen Regierung sollen in Istanbul erstmals Demonstranten und ein Büro der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) attackiert haben. Eine Gruppe junger Männer habe das Büro in Sishane, etwa zwei Kilometer vom Taksim-Platz entfernt, mit Stöcken attackiert, berichteten türkische Medien. Sie hätten Slogans für Ministerpräsident Erdogan gerufen. Aktivisten der Opposition berichteten unabhängig davon im Internet, mit Knüppeln und Messern bewaffnete Männer hätten einige hundert Meter entfernt Demonstranten angegriffen. Die Polizei habe sie gewähren lassen.
Gewaltsame Räumung
Die Polizei habe ihren Einsatz mit einer Gewalt wie im Krieg geführt, kritisierte die Taksim-Plattform. Die Gewalt werde aber die Proteste im Land nicht stoppen können. Dagegen kündigte die Regierung an, hart gegen weitere Proteste vorzugehen. Wer den Taksim-Platz betrete, werde als Terrorrist behandelt, zitierte die Hürriyet Daily News den für die Verhandlungen mit der EU zuständigen Minister Egemen Bagis.
Ultimatum
Eigentlich hatte Erdogan den Demonstranten auf dem Istanbuler Taksim-Platz und im besetzten Gezi-Park ein Ultimatum gesetzt. Sollten sie nicht bis Sonntag abziehen, werde er einen Polizeieinsatz anordnen, so Erdogan am Samstag.
Die türkische Polizei dürfte von einem solchen Ultimatum jedoch nicht in Kenntnis gesetzt worden sein, oder sie hatte schlichtweg eine andere Order. So wurden am Samstagabend Straßen rund um Taksim-Platz und Gezi-Park abgesperrt, es soll eine letzte, kurze Warnung per Lautsprecher gefolgt sein. Dann rückte die Exekutive mit Wasserwerfern und Tränengas an.
Der Sturm der Polizei auf das Lager der Protestbewegung traf Tausende Demonstranten trotz aller Warnungen der Regierung unvorbereitet. Eltern spazierten mit Kindern zwischen den Zelten. Auf Grills brutzelte Fleisch. Einige saßen beim Abendessen auf ihren Decken. Teekessel köchelten. Musiker hatten an allen Ecken des Zeltlagers vor klatschenden Zuschauern gespielt.
Verletzungen, Verätzungen
Via Twitter kursierende Fotos (siehe Folgeabschnitt) bestätigen Meldungen, wonach einige Wasserwerfern ätzende Flüssigkeiten beigemengt hatten. Nach nicht einmal einer Stunde hatte man das Areal zur Gänze geräumt. Mittlerweile wurde auch das gesamte Protestcamp abgebaut und abtransportiert.
TV-Bilder zeigten, dass das Divan-Hotel am Taksim-Platz, wo sich Ärzte und Freiwillige um Verletzte kümmern, mit Tränengasgranaten angegriffen und schließlich gestürmt wurde.
Claudia Roth in Istanbul
Entsetzt erlebte die deutsche Grünen-Politikerin Claudia Roth in Istanbul mit, wie das Protestlager von der Polizei geräumt wurde. "Das ist wie im Krieg. Die jagen die Leute durch die Straßen und feuern gezielt mit Tränengas-Granaten auf die Menschen", sagte die Parteivorsitzende der Grünen der Nachrichtenagentur dpa.
Die Räumung in Bildern
Auslöser
Die Türkei wird seit zwei Wochen von einer beispiellosen Protestwelle erschüttert. Auslöser der Proteste waren Pläne für eine Bebauung des Parks, die Demonstrationen weiteten sie sich aber rasch auf andere Städte aus. Inzwischen richten sie sich allgemein gegen Erdogan. Die Demonstranten werfen dem Regierungschef einen autoritären Regierungsstil und die Missachtung abweichender Meinungen vor. Die vorwiegend jungen und säkular gesinnten Protestteilnehmer verdächtigen ihn, eine schleichende Islamisierung der Gesellschaft zu befördern.
Die Besetzer des Gezi-Parks und des Taksim-Platzes hatten am Samstag trotz einiger Zugeständnisse der Regierung eine Fortsetzung ihrer Proteste angekündigt. Vertreter des Protest-Bündnisses hatten sich am Donnerstagabend mit Erdogan in dessen Residenz in der Hauptstadt Ankara getroffen. Anschließend erklärte die Regierung, das vorläufig gestoppte Bauprojekt im Gezi-Park bis zu einem endgültigen Gerichtsurteil über dessen Rechtmäßigkeit nicht weiter zu verfolgen. Sollte die Justiz das Vorhaben für legal erklären, will die Regierung die Bürger Istanbuls in einer Volksabstimmung dazu befragen.
Wegen des harten Vorgehens der Polizei wurde Erdogan von zahlreichen westlichen Partnern kritisiert. Laut dem türkischen Ärztebund wurden bei den Protesten seit Ende Mai vier Menschen getötet und fast 7500 weitere verletzt.
In Wien hat am frühen Sonntagnachmittag eine Solidaritätskundgebung für die Protestierenden vom Istanbuler Gezi-Park begonnen. Unter dem Motto "Schulter an Schulter gegen Faschismus" versammelten rund 1.000 Demonstranten vor dem Vereinslokal des "Vereins zur Förderung des Gedankenguts Atatürks in Österreich" in Wien-Favoriten.
Gegen 13.00 Uhr setzte sich der Protestmarsch in Richtung Schwarzenbergplatz (Innere Stadt) in Bewegung. Viele der Marschierenden zeigten empört über das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten im Istanbuler Gezi-Park. Am Abend findet vor der Votivkirche außerdem ein Solidaritätskonzert unter dem Motto Kunst für Widerstand statt.
Nach der Räumung des Gezi-Parks in Istanbul wird eine Grünfläche in der türkischen Hauptstadt Ankara zum neuen Symbol der Protestbewegung. Der Kugulu-Park war Schauplatz der größten Solidaritätsdemonstrationen mit den Gezi-Park-Besetzern, berichtete die Zeitung "Hürriyet Daily News" am Samstag.
"Der Kugulu-Park ist zu einem wichtigen Symbol geworden. Soziale Kämpfe werden meist über Symbole ausgetragen", meinte der Aktivist Cenk Yigiter. Der Gezi-Park sei der Geburtsort eines Aufschreis der Menschen gewesen, wo sich eine harmlose Forderung nach Rettung von Bäumen in eine landesweite Plattform des Widerstands verwandelt habe.
In den beiden vergangen Wochen hatten im Kugulu-Park und auf dem Kizilay-Platz in Ankara die größten Solidaritätsdemonstrationen mit der Gezi-Park-Bewegung stattgefunden.
Am 13. Juni waren rund 100 Akademiker durch den Kugulu-Park marschiert und hatten der getöteten Demonstranten Ethem Sarisülük, Abdullah Cömert und Mehmet Ayvalitas gedacht.
Noch in der vergangenen Woche war es lediglich ein lokaler Protest gegen eine Städtebau-Projekt in Istanbul, inzwischen hat der Proteststurm in der Türkei mehr als 60 Städte erfasst. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sieht sich mit dem größten politischen Flächenbrand seit seinem Amtsantritt im Jahr 2002 konfrontiert:
28. Mai: In der Millionen-Metropole Istanbul gibt es eine Demonstration gegen den Bebauungsplan im Gezi-Park in der Nähe des Taksim-Platzes. Erdogans Partei will dort ein osmanisches Kasernengebäude aus dem 18. Jahrhundert nachbauen und darin Cafés, Museen oder auch ein Einkaufszentrum unterbringen.
31. Mai: Die Polizei in Istanbul setzt Tränengas gegen mehrere hundert Demonstranten ein. Es gibt mindestens zwölf Verletzte.
1. Juni: Die Proteste in Istanbul werden gewalttätiger, die Demonstranten werfen Steine und Flaschen, die Polizei setzt Tränengas und Pfefferspray ein. Der Funken springt auf andere Städte über. Amnesty International sprich von hundert verletzten Demonstranten. Erdogan räumt "einige Fehler" im Verhalten der Polizei ein, die vom Taksim-Platz abgezogen wird. Dort rufen die Demonstranten nun auch: "Regierung, tritt zurück!"
2. Juni: Erste große Protestkundgebung in der Hauptstadt Ankara: Rund tausend Demonstranten versuchen zum Regierungssitz zu ziehen. Die Polizei setzt Wasserwerfer und Tränengas ein. Amnesty International beklagt, mehrere Demonstranten seien durch das Tränengas erblindet. Die Angaben zur Bilanz der Auseinandersetzung gehen nun weit auseinander: Innenminister Muammer Güler spricht von 58 verletzten Zivilisten und 115 verletzten Polizisten landesweit. Er gibt die Zahl der Festgenommenen mit 1700 in 67 Städten an. Menschenrechtsgruppen bilanzieren ihrerseits inzwischen tausend Verletzte in Istanbul und 700 in Ankara.
3. Juni: Präsident Abdullah Gül versichert den Demonstranten, ihre Botschaft sei "angekommen". Erdogan seinerseits will nicht zurückstecken und lehnt es vehement ab, in Anlehnung an den Arabischen Frühling nunmehr auch von einem Türkischen Frühling zu sprechen. In der Provinz Hatay wird laut dem Sender NTV ein 22-jähriger Demonstrant von einem Unbekannten angeschossen und so schwer verletzt, dass er im Krankenhaus stirbt.
4. Juni: Erneute Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Polizei in Istanbul und Ankara. In der Stadt Antakya wird nach Angaben von Behördenvertretern ein weiterer Demonstrant getötet. Laut Vizeregierungschef Arinc wurden bisher 244 Polizisten und 64 Zivilisten verletzt. Aktivisten sprechen dagegen weiter von hunderten Verletzten. Zwei große Gewerkschaften, KESK und DISK, unterstützen die Protestbewegung mit einem Aufruf zu einem zweitägigen Streik.
5. Juni: Tausende folgen dem Streikaufruf. Sie fordern lautstark Erdogans Rücktritt. Anführer der Protestbewegung treffen Arinc in Ankara und übergeben einen Forderungskatalog: sie verlangen unter anderem ein Einsatzverbot für Tränengas, die Freilassung festgenommener Demonstranten und die Entlassung der für brutale Polizeieinsätze verantwortlichen Polizeichefs. In Izmir werden 25 Menschen wegen Übermittlung "irreführender und verleumderischer" Nachrichten über den Kurznachrichtendienst Twitter festgenommen.
6. Juni: Nach Medienberichten stirbt erstmals ein Polizist seinen Verletzungen im Krankenhaus. Erdogan verkündet bei einem Besuch in Tunis, er wolle von dem umstrittenen Bauprojekt nicht abrücken. Er sieht auch "Terroristen" unter den Demonstranten.
14. Juni: Nach einem Treffen von Regierungschef Recep Tayyip Erdogan mit Vertretern der sogenannten Taksim-Plattform in der Nacht auf Freitag in Ankara sagte Regierungssprecher Hüseyin Çelik, dass die Regierung nunmehr die endgültige Entscheidung des Gerichts abwarten wolle, das die Bauarbeiten gestoppt hatte.
15. Juni: Erdogan hat die Demonstranten, die seit Wochen den zentralen Gezi-Park in Istanbul besetzt halten, aufgefordert, bis Sonntag abzuziehen. Die Demonstranten sollten den Park räumen, bevor eine Großkundgebung der regierenden AKP auf dem angrenzenden Taksim-Platz abgehalten werde.
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