Türkei: "Tage der Tyrannei werden enden"

Die Polizei nimmt in der Stadt Diyarbakir einen Demonstranten fest
In der Nacht wurden in der Türkei oppositionelle Politiker in Haft genommen. Im Ausland häuft sich die Kritik an die Regierung in Ankara.

Bei nächtlichen Razzien hat die türkische Polizei mindestens elf Abgeordnete der pro-kurdischen HDP festgenommen, darunter die beiden Vorsitzenden der Oppositionspartei. Die Staatsanwaltschaft habe die Festnahme von insgesamt 15 HDP-Abgeordneten angeordnet, die Vorladungen nicht gefolgt seien, teilte die Regierung mit. Gegen die beiden Vorsitzenden der Oppositionspartei ist Untersuchungshaft verhängt worden. Ein Gericht in der Kurdenmetropole Diyarbakir habe am Freitag Haftbefehl gegen Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag erlassen, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Bei einem Anschlag in Diyarbakir starben indes acht Menschen.

"Ziviler Putsch"

Der verhaftete Vorsitzende der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP hat Widerstand gegen den "zivilen Putsch" von Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Türkei angekündigt. "Angesichts unseres Widerstandes werden diese Tage der Tyrannei früher oder später enden", hieß es in einer von der HDP verbreiteten Botschaft von Parteichef Selahattin Demirtas, die er über seinen Anwalt schickte.

"Meine Kollegen und ich werden gegen diesen illegalen Putsch überall und in jeder Phase standhaft bleiben." Die HDP werde ihren "demokratischen Kampf" fortsetzen. Gegen Demirtas und seine Ko-Vorsitzende Figen Yüksekdag wurde am Freitag Untersuchungshaft verhängt.

Bestürzung in Österreich

Politiker aller österreichischen Parteien betonten, dass sich die Türkei von einer EU-Beitrittsperspektive entferne. ÖVP-Außenminister Sebastian Kurz entschied den Geschäftsträger der türkischen Botschaft am Freitag einzubestellen. Auch Deutschland hat den türkischen Geschäftsträger einbestellt. "Die nächtlichen Festnahmen von Politikern und Abgeordneten der kurdischen Partei HDP sind aus Sicht des Außenministers eine weitere drastische Verschärfung der Lage", hieß es zur Begründung aus dem deutschen Außenamt.

Türkei reagiert aggressiv auf Kritik

Auf Kritik reagiert die türkische Regierung mit Verbalattacken.

"Sie müssen sehen und verstehen, dass die türkische Justiz genauso neutral und unabhängig ist wie die deutsche."

Justizminister Bekir Bozdag sagte, die Festnahmen von Abgeordneten seien rechtskonform gewesen. Weder Kanzlerin Merkel noch EU-Kommissare hätten das Recht, der Türkei "Lehren zu erteilen", betonte er. "Sie müssen sehen und verstehen, dass die türkische Justiz genauso neutral und unabhängig ist wie die deutsche." Bozdag griff zugleich Deutschland scharf an. "Rechtsstaat und Freiheiten gibt es nur für Deutsche", sagte der Minister. "Wenn Sie ein Türke in Deutschland sind, haben Sie überhaupt keine Rechte."

Kritik an Erdogan-Sager

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte Deutschland am Donnerstag vorgeworfen, Terroristen Unterschlupf zu bieten, statt "rassistische Übergriffe gegen Türken" zu verhindern. "Man wird sich zeitlebens an euch erinnern, weil ihr den Terror unterstützt habt", sagte Erdogan.

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier erwiderte: "Ich kann die Äußerungen Erdogans zur Sicherheitslage Deutschlands überhaupt nicht nachvollziehen." Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte schon am Mittwoch Kritik an der neuerlichen Festnahmen von Journalisten in der Türkei wegen angeblicher Terrorunterstützung geäußert.

"Was ich derzeit in der Türkei beobachte, bestürzt mich."

Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hat das Vorgehen der türkischen Behörden nach dem Putschversuch verurteilt. "Was ich derzeit in der Türkei beobachte, bestürzt mich", sagte Gauck dem Nachrichtenmagazin Spiegel laut Vorabbericht vom Freitag. Zusammenarbeit könne nicht den Verzicht auf Kritik bedeuten, so Gauck.

Wenn die Regierung in Ankara den Putschversuch vom Juli nutze, um die Pressefreiheit faktisch auszuhebeln, wenn die Justiz instrumentalisiert werde und der Präsident die Wiedereinführung der Todesstrafe betreibe, würden zentrale Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaats außer Kraft gesetzt. Das sei eine Eskalation, die die Europäer nicht unbeantwortet lassen könnten, sagte das deutsche Staatsoberhaupt.

Seehofer für Unterbrechung der EU-Beitrittsverhandlungen

CSU-Chef Horst Seehofer hat sich angesichts der Verhaftung von führenden Oppositionspolitikern in der Türkei dafür ausgesprochen, die EU-Beitrittsverhandlungen mit dem Land zu unterbrechen. "Mit einem solchen Land darf es keine Visafreiheit geben", sagte Seehofer am Freitag auf dem CSU-Parteitag in München.

"Mit solchen Land müssen die Verhandlungen zu einem EU-Beitritt mindestens unterbrochen werden", forderte der bayerische Ministerpräsident.

Internetzugang wurde eingeschränkt

Die türkische Regierung hat inzwischen eingeräumt, dass die Behörden den Zugang zum Internet eingeschränkt haben. Ministerpräsident Binali Yildirim sagte, es handle sich um eine "vorübergehende Maßnahme", die "aus Sicherheitsgründen" angeordnet worden sei. "Sobald die Gefahr vorbei ist, wird alles wieder normal funktionieren." In den Kurdengebieten in der Südosttürkei und in anderen Regionen sperrten die Behörden in der Nacht auf Freitag den Zugang zu sozialen Medien. Auch der in der Türkei verbreitete Nachrichtendienst Whatsapp funktionierte nicht mehr. In Istanbul, der größten Stadt der Türkei, und in der Kurdenmetropole Diyarbakir war zeitweise das mobile Internet per Handy nicht zu erreichen.

Regierungskritiker in der Türkei nutzen soziale Medien, um Informationen auszutauschen oder um Demonstrationen zu organisieren. Auch für die verbliebenen kritischen Journalisten sind soziale Medien eine wichtige Quelle geworden.

Kritik des deutschen Journalisten-Verbands

Der Deutsche Journalisten-Verband protestierte am Freitag "gegen die Kappung der sozialen Netzwerke in der Türkei, von der mindestens die noch arbeitenden Redaktionen des Landes betroffen sind.

EU-Kommission in Sorge

Auch EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hat die Festnahme führender türkischer Oppositionspolitiker kritisiert. Sie sei wegen der Verhaftung von HDP-Chef Selahattin Demirtas und anderer Abgeordneter der prokurdischen Partei sehr besorgt, erklärte die italienische Politikerin am Freitag auf Twitter. Sie habe ein Treffen der Botschafter der EU-Staaten in Ankara einberufen.

Bei dem Anschlag auf das Polizeihauptquartier in der südosttürkischen Stadt Diyarbakir wurden zudem mehr als 100 weitere Menschen verletzt. Der türkische Regierungschef Binali Yildirim machte am Freitag die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) für den Anschlag in der Kurdenmetropole verantwortlich. Mutmaßlich handle es sich um einen Selbstmordanschlag, unter den Toten sei ein "Terrorist" der PKK, sagte Yildirium.

Türkei: "Tage der Tyrannei werden enden"
People run the streets near the explosion site on November 4, 2016 after a strong blast in the southeastern Turkish city of Diyarbakir. Eight people were killed, including two police, and over 100 wounded in a car bombing by Kurdish militants in the southeastern Turkish city of Diyarbakir, Prime Minister Binali Yildirim said on November 4, 2016, updating an earlier toll. The blast, which Yildirim said was carried out by the outlawed Kurdistan Workers Party (PKK), targeted a police headquarters hours after top Kurdish politicians were detained in an unprecedented police crackdown. / AFP PHOTO / ILYAS AKENGIN

Pro-kurdische Abgeordnete verhaftet

Die Explosion hatte sich in der Früh ereignet. Bei nächtlichen Razzien hatte die Polizei wenige Stunden zuvor elf HDP-Abgeordnete festgenommen, darunter die Parteichefs Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Demirtas wurde laut Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi in seiner Wohnung in Diyarbakir festgenommen, Yüksekdag in Ankara. Auch Fraktionschef Idris Baluken wurde in Gewahrsam genommen.

Eine Pressekonferenz in der HDP-Parteizentrale in Ankara verhinderte die Polizei. Diese lasse Journalisten auch mit dem Presseausweis der Regierung nicht durch die Absperrungen an der Zentrale, berichteten mehrere Reporter vor Ort. In einer in einer gemeinsamen Erklärung zeigten sie sich dennoch kämpferisch. "Ob wir nun im Parlament oder im Gefängnis sind, ihr werdet uns nicht davon abbringen, unsere Ideen zu verteidigen und für sie zu kämpfen", hieß es in dem Schreiben, das am Freitag über türkische Medien verbreitet wurde. "Früher oder später wird unser Kampf für Demokratie siegen. Das verstaubte Regime in der Person von (Staatspräsident Recep Tayyip) Erdogan wird zu einem Ende kommen." Nur das Volk könne die Abgeordneten zur Rechenschaft ziehen, hieß es.

Türkei: "Tage der Tyrannei werden enden"

Auf Betreiben von Erdogan war im Juni die Immunität zahlreicher Abgeordneter aufgehoben worden. Die auch von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisierte Maßnahme richtete sich vor allem gegen die HDP. 55 der 59 HDP-Abgeordneten verloren meist wegen Terrorvorwürfen ihre Immunität. Sie weigerten sich aber, gerichtlichen Vorladungen Folge zu leisten. Erdogan beschuldigt die zweitgrößte Oppositionspartei im Parlament, der verlängerte Arm der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu sein.

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