Türkei bereit zum "EU-Vollmitglied"

Türkei bereit zum "EU-Vollmitglied"
Premier Erdogan drängt in Berlin vehement auf die EU-Aufnahme, er will sich "nicht mehr hinhalten lassen".

So selbstbewusst trat Recep Tayyip Erdogan noch selten in Deutschland auf. Anlass war die Eröffnung des Neubaus der türkischen Botschaft im Regierungsviertel von Berlin, der bisher größten seines Landes. "Wir bereiten uns vor, dass wir Vollmitglied der EU werden", sagte Erdogan in der Eröffnungsrede. Die Türkei werde sich aber "nicht bis 2023 hinhalten lassen". Sie sei "keine Last für Europa, sondern bereit, für Europa Lasten zu übernehmen". Zum 100-Jahr-J­ubiläum der Republikgründung 2023 müsse die Türkei in der EU sein: "Wenn Sie versuchen, uns bis dahin hinzuhalten, wird die EU verlieren, zumindest die Türkei."

Presse und Diplomaten interpretierten dies als Ultimatum. Sie wiesen darauf hin, dass Erdogan selbst die Gespräche abgebrochen habe, weil Zypern derzeit den EU-Vorsitz führt. Schon zuvor habe die Türkei in den Einzelfragen kaum Bewegung gezeigt, auch deshalb sei erst eines von 35 Kapiteln der EU-Beitrittsverhandlungen abgeschlossen.

Ermutigt wurde Erdogan von Außenminister Guido Westerwelle (FDP), der auf zügigere Verhandlungen unter Irlands Präsidentschaft ab Jänner 2013 hofft: "Der Stillstand seit zwei Jahren ist für beide Seiten nicht gut." Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin forderte von der Bundesregierung einen "grundsätzlichen Kurswechsel", die Türkei habe sich unter Erdogan "erheblich zum Positiven verändert", auch bei den Menschenrechten.

Hindernisse

Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Erdogan gestern für eine Stunde empfing, hat bisher eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei offen gelassen und stattdessen eine "privilegierte Partnerschaft" propagiert. In den EU-Verhandlungen sieht die Bundesregierung das feindliche Verhalten der Türkei gegenüber dem EU-Mitglied Zypern und die immer mehr bedrohten Minderheitenrechte und Meinungsfreiheit als Haupthindernisse.

Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) beklagte "Defizite im türkischen Rechtssystem". Zu denen zählt Berlin Strafprozesse wegen kritischer Äußerungen zu Staat und Islam wie derzeit gegen Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk und den Pianisten Fazil Say. In der Türkei sitzen mehr Journalisten im Gefängnis als in China und dem Iran zusammen.

Am Mittwoch demonstrierten 2500 Aleviten gegen Erdogan vor dem Brandenburger Tor. Die türkische Minderheit mit dem liberal-islamischen Glauben wirft ihm Unterdrückung ihrer Religionsausübung vor. Erdogan schlug auch gegenüber den Türkisch-stämmigen in Deutschland klarere Töne an: Sie müssten sich "integrieren", wozu vor allem Deutsch- Kenntnisse gehörten. Sie müssten "neben der Muttersprache auch Deutsch lernen und auch Goethe verstehen". Merkel sicherte ihm vor der Presse "ehrliche" EU-Beitrittsverhandlungen zu, "unbeschadet der grundsätzlichen Fragen".

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