Türkei: Angst vor Pleitewelle und Massenentlassungen im Herbst

Inmitten von Währungsverfall und Hass auf die USA wächst die Furcht vor einer Verschärfung der Krise. Ein Lokalaugenschein.

Die Schuldenfalle ist zugeschnappt, und für Yunus gibt es kein Entrinnen.

Vor ein paar Monaten lieh sich Yunus, ein junger Ladenbesitzer aus Istanbul, bei Freunden 4000 Euro, um sein Geschäft in der Nähe der Einkaufsmeile Istiklal Caddesi auf Vordermann zu bringen. Er verkauft und repariert Handys und bietet außerdem Handy-Zubehör wie Kopfhörer, Kabel und Schutzhüllen an.

Eigentlich ein todsicheres Geschäft in einem Land wie der Türkei, wo fast 99 Prozent der Bürger ein Mobiltelefon besitzen und wo jeder immer das neueste Modell haben will. Aber der Absturz der Lira bringt Yunus an den Rand des Ruins.

An einem normalen Tag sieht Yunus derzeit nur noch wenige Kunden. Der 30-Jährige aus dem südosttürkischen Mardin angelt ein Paket Kopfhörer vom Regal, um zu zeigen, warum das so ist. „Die hier kosteten mich im Einkauf bis vor kurzem noch acht Lira, jetzt zahle ich 15“, sagt er.

Kursverfall

Der dramatische Kursverfall der Lira gegenüber dem Dollar mache alles teurer, was er aus dem Ausland einführen muss – und das ist praktisch sein gesamtes Sortiment.

Die Preissteigerung könne er aber nicht an seine Kundschaft weitergeben, weil die Waren für türkische Normalbürger sonst unerschwinglich würden.

Weil die Lira so stark an Wert verloren hat, halten viele Türken ihr Geld zusammen und warten mit Anschaffungen, bis sich die Währungsturbulenzen einigermaßen gelegt haben.

Türkei: Angst vor Pleitewelle und Massenentlassungen im Herbst

Markt in Ankara

Für Yunus bedeutet das gleich zwei Probleme auf einmal: Er verkauft weniger, und er verdient auch noch weniger dabei. „Als ich mir das Geld geliehen habe, waren die 4000 Euro um die 16.000 Lira wert“, rechnet er vor. „Heute sind es 28.000 Lira. Das sind 12.000 Lira mehr, die ich erstmal verdienen muss.“

Massenentlassungen

Auf die Frage, wie er das machen will, zuckt er ratlos mit den Schultern.

Yunus ist nicht allein. Insgesamt sitzen türkische Unternehmen auf mehr als 200 Milliarden Dollar Schulden in ausländischen Währungen. Für eine Firma, die nur Lira einnimmt, sind diese Verbindlichkeiten seit Jahresbeginn um ein Drittel teurer geworden.

Manche Beobachter rechnen mit einer Pleitewelle und Massenentlassungen im Herbst.

Vorerst aber ist ein Teil der türkischen Öffentlichkeit weniger mit der Aussicht auf schwierige Zeiten beschäftigt als mit dem Zorn auf die USA.

Die Entscheidung von Donald Trump, die ohnehin schwächelnde Türkei mit Wirtschaftssanktionen für die Inhaftierung eines US-Pastors zu bestrafen, hat der Regierung von Präsident Recep Tayyip die Gelegenheit gegeben, den Amerikanern die Schuld an der miesen Lage in die Schuhe zu schieben.

Erdoğan spricht von „Wirtschaftskrieg“ und einem „Dolchstoß“ des NATO-Verbündeten und ruft seine Anhänger zu einem Boykott amerikanischer Produkte auf. Aufgeputschte Erdoğan-Fans verbrennen vor laufenden Kameras ganze Bündel von Dollarnoten oder zertrümmern ihre iPhones.

In einem Stadtteil von Ankara haben die Behörden die Eröffnung amerikanischer Schnellrestaurants verboten und wünschen sich, dass es die Stadtverwaltungen in anderen Landesteilen ebenso halten werden.

"American Crew Cut"

Einige Frisöre lehnen es ab, ihren Kunden einen bestimmten Kurzhaarschnitt zu verpassen, weil der Stil unter dem Namen „American Crew Cut“ bekannt ist.

Manche Erdoğan-Gefolgsleute fordern den Rauswurf amerikanischer Soldaten aus dem südtürkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik, der beim Kampf gegen den Islamischen Staat in Syrien eine große Rolle spielt.

Als Ohrfeige für Amerika feiert die regierungsnahe Presse das Investitionspaket von 15 Milliarden Dollar, das der Emir von Katar bei einem Besuch in Ankara versprochen hat.

„Idioten“

Jedoch lassen sich längst nicht alle Türken von der Hysterie anstecken. Am zentralen Taksim-Platz von Istanbul zum Beispiel schlürfen drei Freunde an einem sonnigen Vormittag auf der Terrasse einer Starbucks-Filiale ihren Eiskaffee.

Von einem Boykott der US-Kette kann keine Rede sein: Drinnen vor dem Tresen drängen sich die Kunden wie immer und warten darauf, ihre Bestellung abgeben zu können.

Mehmet (Name geändert), einer aus dem Trio auf der Terrasse, kann der ganzen anti-amerikanischen Boykottaktion nichts abgewinnen. „Das sind Idioten“, sagt er über die iPhone-Zertrümmerer.

Ohnehin kann der Ärger über die Amerikaner nichts an der prekären wirtschaftlichen Lage der Türkei ändern. Experten sehen einen wichtigen Grund für die Probleme darin, dass es Erdoğan in den Jahren des billigen Geldes versäumt hat, strukturelle Reformen anzupacken.

Jetzt, wo sich viele Anleger aus Schwellenländern wie der Türkei zurückziehen, steht das Land vor Schwierigkeiten, die vermeidbar gewesen wären.

20 Prozent Inflation?

Das dicke Ende kommt erst noch, glauben viele Türken deshalb. Manche Fachleute erwarten für die kommenden Monate eine Inflationsrate von mehr als 20 Prozent und eine Rezession.

Sollte Erdoğan weiter der nominell unabhängigen Zentralbank die dringend benötigte Leitzinsanhebung verbieten, könnte das viele Anleger verschrecken – auch die 15 Milliarden Dollar aus Katar reichen schließlich nicht ewig.

In einem Elektroladen in der Istanbuler Innenstadt berichtet ein Verkäufer über steigende Preise für Kabel, Schalter, Lampen und Glühbirnen bei äußerst schwacher Nachfrage durch die Kunden.

„Im Moment ist Ferienzeit, da ist eh nichts los, deshalb ist das derzeit kein großes Problem“, sagt der bärtige Mann, der gerade das Kleingeld aus der Kasse zählt.

„Aber lass’ es mal September werden, dann müssen die Leute wieder zur Arbeit und die Kinder in die Schule – dann wird sich zeigen, ob die Kunden zurück kommen. Dann sehen wir, wie ernst es wird.“

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