Tschernobyl-Tourismus: Urlaub am Ort der nuklearen Katastrophe
Friedlich und verlassen liegt Prypjat da, eine Stadt in ihren letzten Zügen. Dort, wo der Straßenasphalt aufgeplatzt ist, wachsen Bäume und Büsche. Sie beschönigen den Verfall der fünfstöckigen Plattenbauten.
Manche Fenster geben den Blick auf ein Wohnzimmer frei oder auf ein Schlafzimmer, in dem sich noch immer Einrichtungsgegenstände, Kleidung und Spielzeug der früheren Bewohner befinden. Auf dem Boden liegen Nägel und zerbrochene Glasscheiben, Steine und Splitter.
Mehr als drei Jahrzehnte sind seit der nuklearen Katastrophe von Tschernobyl vergangen. In der sogenannten Sperrzone, die sich im Radius von 30 Kilometern zum ehemaligen Kernkraftwerk erstreckt und noch immer als unbewohnbar gilt, ist diese Geschichte konserviert.
„Manche Menschen machen Urlaub am Meer, manche in den Bergen. Und manche eben hier“, sagt die Touristenführerin Ada Melnychenko (33). Sie scannt die Umgebung nach ihrer Reisegruppe ab, etwa 30 Personen sind es heute, die mit knallgelben Geigerzählern bewaffnet durch die Gegend streifen und ein Foto nach dem anderen schießen. Die Besucher stammen aus Brasilien, den USA, Deutschland und Australien. Die Faszination für Tschernobyl und die Sowjetunion verbindet sie.
Boom durch TV-Serie
Gut 70.000 Menschen haben Tschernobyl im vergangenen Jahr besucht – und es werden mehr. Die Reiseunternehmen, die sich auf diese Führungen spezialisiert haben, gehen für 2019 von einem Wachstum von 30 bis 40 Prozent aus. Denn seitdem die US-amerikanisch-britische TV-Serie „Chernobyl“ im Mai dieses Jahres gestartet wurde und ein Millionenpublikum begeisterte, boomt der Tschernobyl-Tourismus.
Das wachsende Interesse an den Ausflügen bezeichnet Melnychenko als Erfolg. Mit dem Begriff Katastrophen-Tourismus, Dark-Tourism, kann sie wenig anfangen. Doch der boomt weltweit. Es gehe nicht nur darum, den Voyeurismus ausländischer Touristen zu bedienen, sagt sie. „Es ist toll, dass sich die Leute für die Geschichte dieses Ortes interessieren und mehr über die Sowjetunion erfahren wollen.“ Schließlich wissen die meisten Menschen noch immer viel zu wenig über die ukrainische Geschichte und über die nukleare Katastrophe, die die sowjetische Regierung vertuschen wollte.
Definition
Schlachtfelder, Gräber, Gefängnisse, Orte der Massentötung, des SuperGAUs oder auch Wohnhäuser, in denen gemordet wurde: Diese Stätten hängen mit Tod, Katastrophen und Leid zusammen. Sie sind Ziel von Dark Tourism, auch Katastrophentourismus, Morbid- , Fright- oder Thana Tourism genannt. Die Destinationen boomen.
Aufarbeitung oder Sensationsgier?
Dark Tourism ist nicht selten eine Gratwanderung zwischen geschichtlicher Aufarbeitung und Sensationsgier. Auch die Forschung beschäftigt sich seit wenigen Jahren mit dem Phänomen, wie etwa am Institut für düstere Tourismusforschung an der britischen Uni Central Lancashire.
Während ihrer Führungen erzählt sie auch von den vielen Menschen, die Tschernobyl nach der Katastrophe gesäubert haben. Menschen, die ihr Leben und ihre Gesundheit riskiert und noch Schlimmeres verhindert haben. Melnychenko sieht in ihrem Beruf eine Chance für Aufklärung. Auch darüber, wie radioaktive Strahlung eigentlich funktioniert.
„Die radioaktive Strahlung ist an den meisten Orten, die wir auf der Tour besuchen, gering“, sagt sie. Dass ein Kurzzeitbesuch in der Sperrzone für Touristen heute unbedenklich ist, bestätigt Sviatoslav Levchuk, der am Ukrainischen Institut für Agrarradiologie forscht. Jedenfalls solange die Sicherheitsbestimmungen eingehalten werden. Besucher müssen lange Kleidung tragen, dürfen nicht auf dem Boden sitzen oder mit den Schuhen die Erde aufscharren. Und es ist verboten, jegliche Gegenstände aus der Sperrzone mitzunehmen.
Für die Nachwelt
Immer wieder hält Melnychenko Fotos in die Höhe, die zeigen, wie Prypjat in den 1970er-Jahren aussah: Mütter schieben ihren Kinderwagen über den Hauptplatz. Vor gepflegten Plattenbauten blühen rote Blumen. Bis zum 26. April 1986 galt Prypjat als sowjetische Musterstadt. Dann kam es zur größten zivilen nuklearen Katastrophe in der Geschichte der Menschheit: zu einer Kettenreaktion im Block 4 des Kraftwerks. Für dessen Arbeiter wurde die Stadt Prypjat einst eigens errichtet. Auf die Kernschmelze folgten zwei Explosionen, radioaktives Material wurde freigesetzt. Mehr als 200.000 Menschen mussten aus den umliegenden Gebieten evakuiert werden. „Es ist wichtig, dieses Gebiet für die Nachwelt zu erhalten“, sagt Melnychenko. Nur so könne verhindert werden, dass die Menschheit vergisst, wozu sie in der Lage ist.
Wer heute auf dem Hauptplatz von Prypjat steht, sieht die Stadt vor lauter Bäumen nicht mehr. „Mir wurde hier bewusst, dass die Natur stärker ist, als man immer denkt“, sagt die deutsche Studentin Leonie Neuenhausen (20).
Gemeinsam mit ihrer Freundin Juliane Demuth (21) wollte sie sich selbst ein Bild machen von diesem Ort, den sie nur aus Geschichtsbüchern und Dokumentationen kennt. „Das hier ist ein Ort zum Nachdenken und Reflektieren. Und man fragt sich schon, ob man noch an der Atomenergie festhalten sollte“, sagt Neuenhausen. Die jungen Frauen sind nur wegen Tschernobyl in die Ukraine gekommen. Ein Land, das sie ansonsten wohl nie besucht hätten.
Zukunftsmodell
Für die Ukraine könnte der Tourismus in Tschernobyl ein Zukunftsmodell werden. Schließlich stellt er eine Möglichkeit dar, wie eine an sich verlorene Gegend doch noch wirtschaftlich genutzt werden könnte. Selbst der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht sich dafür aus, den Tourismus in der Sperrzone zu fördern und strategisch auszurichten.
Leider sei die Sperrzone noch immer ein Symbol für Korruption in der Ukraine, wo die Sicherheitsbeamten Bestechungsgelder von Touristen einsammeln. Selenskyj sagt: „Bisher war Tschernobyl ein negativer Bestandteil der ukrainischen Marke.“ Es sei an der Zeit, dies zu ändern.
Aus Prypjat Daniela Prugger
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