Terrorziel: Die Jungen im Multikulti-Viertel
Vielleicht war es Zufall. Vielleicht wählten die Dschihadisten ihre Pariser Anschlagsziele bloß danach aus, wo am Freitagabend die meisten Franzosen – "Kreuzritter" in ihrer Diktion – auf die Schnelle niedergemetzelt werden konnten. Aber vielleicht ging es ihnen auch und im Besonderen um symbolische Plätze der Integration, des Zusammenhalts in der Vielfalt, der gemeinsamen Lebensfreude und Hoffnung – zumindest spielt man mit derartigen Gedanken, weil sie diesem willkürlichen Sterben einen Anschein von Sinn verleihen.
Das geplante Gemetzel im Fußballstadion in der Vorstadt blieb zwar aus, weil die dortigen Kamikaze sich vor leeren Eingängen (während des Spiels) alleine in die Luft jagten. Aber dabei, so spekuliert das linksliberale Intellektuellen-Blatt Libération, seien der "sportliche Hedonismus" und die "kosmopolitische Identität des französischen Fußballteams mit seinen glänzenden Spielern aus den benachteiligten Vororten" im Visier der Glaubensfanatiker gestanden.
Alle übrigen Attacken säten den Tod in den trendigen, künstlerisch pulsierenden, sozial und ethnisch gemischten Vierteln des Pariser Nordostens – dem "Biotop der jungen urbanen Coolness mit seinen bis in die Morgenstunden offenen Cafés, Spelunken und Konzerthallen. Wo kleine Modekreatoren, arabische Restaurants, chinesische Imbisse, muslimische Buchhandlungen und Synagogen beieinander stehen", wie Liberation konstatiert. Dass die Dschihadisten diese "progressive Zone" und nicht etwa die klassischen Prunk- und Touristenviertel wie die Champs-Elysée, Louvre und Eiffelturm ins Visier nahmen, sei Absicht, vermutet Libération und spricht von einem "gezielten Angriff auf die junge, lebenslustige und weltoffene Generation, die von Charlie geprägt wurde".
Denn das kommt dazu: Die Angriffe fanden in einem fast konzentrischen Kreis rund um die Redaktionsräume von Charlie-Hebdo statt, wo erst im Jänner zwei Dschihadisten die versammelte Elite der linken Karikaturisten Frankreichs mit einem Schlag auslöschte.
Um diese Ortswahl zu treffen, dürften die Mörder eine gewisse, vielleicht sogar intime Ortskenntnis besessen haben. Verkehrten auch sie in diesen Kneipen, in denen junge Angehörige der europäisch-stämmigen Mittelschicht zwar überwiegen, aber junge Menschen aus arabischen und afrikanischen Familien ganz selbstverständlich mitfeiern? Glaubten sie sich von diesem, vergleichsweise zuversichtlich wirkenden Milieu ausgestoßen oder verachtet? Ärgerten sie sich über die Vermengung junger Muslime mit den fröhlichen Scharen? Wollten sie diese Menschen für ihre freche Vitalität strafen? Hatte doch der "Islamische Staat" in seinem Bekennerschreiben das Rockspektakel in der Konzerthalle "Bataclan", wo die allermeisten Opfer starben, als "Fest der Perversität" gegeißelt.
Jetzt bieten diese Viertel ein Bild des Kontrasts: Die Anschlagsorte sind noch von der Polizei abgesperrt, vor den Barrieren und an diversen Lokalen sind Trauerbotschaften angebracht und Blumen hinterlegt. Aber wenige Gassen weiter quollen schon am Sonntagabend Kneipen mit jungem Publikum über. Freilich stößt man jetzt in all diesen Lokalen fast immer auf Besucher, die zumindest im weiteren Kreis ihrer Verwandten, Freunde oder Kollegen von Toten, Verletzten oder schwer Geschockten zu berichten wissen. Fast jeder kennt jemanden, der sich einstweilen kaum mehr auf die Straße traut.
Einige wollen Trauerbewältigung und unzerbrechlichen Zusammenhalt verbinden. Etwa im Restaurant "La Belle Equipe", wo neun Personen starben, darunter ein Polizist, der seinen Geburtstag feiern wollte, zwei arabisch-stämmige Schwestern, die ebenfalls einen Geburtstag begingen und die – muslimische – Frau des – jüdisch-stämmigen – Restaurateurs. Dieser lud in Anwesenheit eines Psychologen zu einer ergreifenden und verbindenden Zusammenkunft der Hinterbliebenen.
Bei anderen sind allerdings die Zweifel am Bestand des Zusammenlebens, die bereits nach den Anschlägen vom Jänner aufgetaucht waren, inzwischen in tiefe Skepsis umgeschlagen. Zwar vermeiden vorerst die allermeisten die Frage des künftigen Umgangs mit dem Islam. Aber wenn man Gelegenheit hat, nachzufragen, merkt man, dass auch Personen, etwa Lehrer, die bisher die Verträglichkeit zwischen der säkularen Republik und dem Islam für gegeben hielten, sich jetzt Sorgen machen.
Die Teilnehmerin einer Trauerkundgebung berichtete: "Im Bus verhöhnten uns Burschen und sagten, sie gehörten zum ,Islamischen Staat‘. Das tut weh."
Das Gemetzel vom Freitag hat auch im Biotop der Pariser Multikulturalität Wunden geschlagen, von denen niemand mit Gewissheit sagen kann, wann und wie sie vernarben werden.
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