Taubenklos, Eichkätzchen und Obdachlosenkino - wie Madrid im Koma liegt
Das Erste was auffällt, ist Hundekacke. Wozu noch aufheben, scheinen sich die ein oder anderen Hundebesitzer zu fragen. Spätestens seit es Ende März geschneit hat, wissen die Madrilenen: Das wars. Die Spanier sind angewiesen, so kurz wie möglich und grundsätzlich allein draußen zu sein. Das Haus darf nur verlassen, wer nicht von zu Hause arbeiten kann, wer zum Arzt, zur Apotheke oder einkaufen gehen muss. Wer unterwegs ist, muss nachweisen können, dass er dazu berechtigt ist und so kann joggen gehen nun 600 Euro kosten.
Taubenklos auf Parkbänken
Die Stadt gehört jetzt den Lieferanten und die Parkbänke sind Taubenklos. 3,2 Millionen Madrilenen erleben gerade etwas, was Österreicher gut kennen: Monatelang drinnen sein heißt bei uns Winter, geschlossene Läden heißt Sonntag.
Hier in Spanien sind beides außergewöhnliche Erfahrungen. Nach vier Wochen in der Wohnung, beschließe ich, mir ein Bild von der Lage zu machen. Mit Presseausweis bewaffnet spaziere ich ins Zentrum.
Gummihandschuhe und Sonnenbrille
Viele Menschen besorgen ihre Erledigungen nun demonstrativ, indem sie sich mit schweren Taschen bepackt durch die Straßen schleppen. Die Meisten tragen eine Atemschutzmaske, wahlweise über die Nase gezogen, viele ergänzen das Outfit mit Gummihandschuhen. So bekleidet, dazu noch Hut und Sonnenbrille tritt eine ältere Dame auf die Straße. Bei Rot über die Ampel zu gehen ist in Madrid normal, nun haben die elektrischen Verkehrsregler endgültig ihren Zweck verloren.
Vor einem geschlossenen Fastfood Restaurant im Stadtviertel Tetuán beugt sich eine Gruppe Militärpolizisten über einen Stadtplan. Außerdem patrouillieren drei weitere Polizeieinheiten durch die Straßen: die Nationalpolizei, die lokale Polizei und die Guardia Civil. So bleibt die Stadt auch in der Quarantäne bunt.
Beim Betreten des Mercado de Maravillas bekommt jeder Kunde einen Spritzer Desinfektionsmittel in die Hand, was minutenlanges Einbalsamieren zur Folge hat. Weil die Akustik so schlecht ist, muss der Mann im Informationshäuschen beim Sprechen die Atemschutzmaske herunterziehen. Menschen sammeln sich vor einem Obststand.
Wieviel sind eigentlich zwei Meter?
Die Meinungen darüber, was zwei Meter sind, gehen auseinander. Eine Apotheke bietet gratis Masken an, ab einem Einkaufswert von 20 Euro. Bei Einkäufen ab 50 Euro ist die Fleischlieferung nach Hause gratis. „Natürlich sind wir jeden Tag für die Menschen da, aber es kommen wenige, weil viele Angst vor dem Virus haben“, sagt ein Metzger.
Weiter die Straße Bravo Murillo hinunter stehen sie um die Ecke Schlange, um in den Supermarkt Carrefour zu kommen. Ein Türsteher lässt jedes Mal jemanden eintreten, wenn ein anderer das Haus verlässt. Auf der anderen Seite der Tür sitzt ein Bettler hinter seinem Schild. Er isst eine Banane und beobachtet das Geschehen. Zwei Nationalpolizisten schlendern vorbei und unterhalten sich angeregt. Der Abstand zwischen ihnen beträgt in etwa 30cm. Kontrolliert wird eher willkürlich, trotzdem will das niemand riskieren und soweit ich weiß, dreht auch in meinem Bekanntenkreis jeder brav daheim durch.
Einsame Busfahrer
Es sind kaum Leute unterwegs, nur zu den Stoßzeiten, sagt ein Busfahrer, der alleine in seinem Gefährt sitzt. Ein Opa in beiger Hose und grauer Strickjacke wackelt an der Haltestelle vorbei. Am goldenen Gestell seiner Hornrille ist eine Art Schweißermaske befestigt. Die Parks zu beiden Seiten sind geschlossen, polizeiliche Absperrbänder davor angebracht.
Eichkätzchen auf der Flucht
Die Gitterstäbe geben den Blick frei auf die Natur und gefüllte Futternäpfe für die Tiere. Angeblich sind aber die Eichhörnchen mittlerweile aus den Parks ausgebrochen und tatsächlich wurde kürzlich ein Wildschwein auf einer Verkehrsinsel im Norden der Stadt gesichtet.
Stille im hippen Viertel Malasana
In Malasaña, dem hippen Studentenviertel sind die bunten Rollläden der Läden heruntergelassen. Obwohl die Sonne scheint, sind auch die meisten Fensterläden zu und ich frage mich, ob ich die Einzige in der Stadt bin, die sich umständlich aus dem Fenster hängt, um etwas Sonne zu tanken.
Der Plaza de Dos de Mayo ist im normalen Leben immer voll. Dann sitzen Menschen auf den zahlreichen Terrassen, Händler verkaufen Schallplatten, Bücher oder Schmuck an Flohmarktständen. Kinder spielen Fußball, Erwachsene betrinken sich. Jetzt sitzt ein fetter Spatz auf einem abgesperrten Klettergerüst in der Sonne und eine Gruppe Tauben genießt einen Tag an der Pfütze.
Warmes Essen für Bedürftige
Und dann sind sie plötzlich da: Menschen. Am Plaza Juan Pujol, knappe 200 Meter weiter, verteilen einige Männer Essen an Bedürftige. „Das Essen ist hier warm“, sagt eine kleine Frau begeistert. Sie trägt eine Maske, ihre Augenlieder hat sie mit einem schwarzen Strich versehen. „Sonst gibt es immer nur belegte Brötchen.“ Kaum Abstand, Masken oder Handschuhe. Das fällt auf. Mit Karacho fährt ein Polizeiauto gegen einen kniehohen Pfosten. Der Polizist springt heraus und beginnt, die Menschen auseinanderzuschieben. Dann steht er da und ist präsent.
Der 43-jährige Richard ruft die Frau auf, gibt ihr einen Teller mit Fisch und Kartoffeln. Er erklärt, dass die Tafeln wegen des Virus geschlossen wurden und nun vielen Menschen das Essen fehlt. Aber die Nachbarschaft sei großartig, „alle spenden Essen, kleine Cafés, der Obstladen, die Supermärkte“. Die Besitzer eines kleinen Restaurants hatten die Idee, davon Menüs für die Armen zubereiten. Am ersten Tag waren es 15, nun sind es 400, sagt Richard. Er selbst lebt seit kurzem auf der Straße.
Er sagt, er könne sich ein Hostelzimmer leisten, aber die Regierung hat alle Hotels geschlossen. Es gibt einige Einrichtungen für Obdachlose, aber die sind voll. „Ich bin eh lieber draußen“, sagt Richard.
Kino für Obdachlose
Er wohnt in einem Karton an der Glaswand eines Hotels. Am Abend projiziert der Besitzer des Hauses Filme auf die große Leinwand der Lobby, für die Leute draußen. „Die Nachbarschaft hier ist gut. Nur manchmal gibt es zum Streit, weil wir früher essen und schon wieder laut sind, wenn die Leute in ihren Wohnungen Siesta machen wollen“, erzählt er und lacht.
"Hoffe, es wird bald alles besser"
Ein schwarzes Auto fährt vorbei, hält an, fährt schnell rückwärts und kommt neben uns zum Stehen. Drei Polizisten lehnen sich aus dem Fenster und fragen, was das soll. Ich zeige meinen Ausweis und Richard erklärt, dass ich ihn interviewe, um seine Geschichte in Österreich zu erzählen. Er fasst seine Situation kurz zusammen. Die Polizisten hören aufmerksam zu, dann sagt einer: „Das tut mir sehr leid. Ich hoffe, es wird bald alles besser.“ Sie winken und fahren weiter.
Wie im Film
Das Zentrum leer, es ist leise und ich fühle mich wie in einem Film. Aber noch ist die Stadt nicht ganz tot und auch, wenn man sie kaum sieht, die Menschen sind da. In den vergangenen Tagen ist die Zahl der Toten nicht mehr so sehr gestiegen. Die Kurve flacht ab. Trotzdem sind in Spanien bisher mehr als 20.000 Menschen an COVID-19 gestorben, 35% davon in Madrid. Es gibt noch kein Ende für die Ausgangssperre, Experten sprechen von 1. Juni oder 3. Juli. Sicher ist, dass die Situation noch weit darüber hinaus wirken wird.
Maren Häussermann aus Madrid
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