Syrischer Aktivist: "Assad und Russland wollen uns nur noch auslöschen"
Kurier.at: Sie konnten vor wenigen Wochen mit ihrer Familie aus dem belagerten Ostteil von Aleppo flüchten und halten sich derzeit rund 60 Kilometer südwestlich in Idlib auf. Können Sie uns die Lage dort beschreiben?
Mohammad Abdullah (Name geändert): Es kam die vergangenen Tage im Zentrum von Idlib immer wieder zu heftigen Bombardements mit dutzenden Toten. Auch gestern haben russische Kampfjets die Stadt angegriffen. Ich halte mich mit meiner Familie etwas außerhalb der Stadt auf, hier ist es noch relativ sicher. Aber ihr Ziel ist, dass die Menschen aus der Stadt Richtung türkische Grenze flüchten, um ihre Fluchtkonvois aus der Luft anzugreifen.
Wer kontrolliert derzeit Idlib?
Es sind verschiedene Rebellengruppen unter Führung der Dschaisch al-Fatah. Sie kontrollieren seit mehr als einem Jahr Idlib und die umliegende Region.
Aus Aleppo gelangen entsetzliche Bilder mit dutzenden Toten, überall Zerstörung. Was wissen Sie über die Kämpfe dort?
Assad und seine russischen und iranischen Verbündeten geht es in Aleppo nur mehr ums Töten, sie bombardieren alles, egal ob Kämpfer, Frauen, Kinder, sie machen die Stadt dem Erdboden gleich, sie zerstören alles. Ich habe noch Verwandte dort, sie kommen derzeit nicht aus der Stadt, es gibt kaum noch Lebensmittel, kein sauberes Wasser, die medizinische Versorgung ist zusammengebrochen, die Lage ist derzeit ausweglos. Die Russen setzen neue Raketenflammenwerfer ein, sie löschen im Umkreis von 300 Metern alles aus, Menschen werden bei lebendigen Leib verbrannt.
Die UNO versucht eine Resolution zu verabschieden, Russland und dem syrischen Regime werden Barbarei und Kriegsverbrechen vorgeworfen. Glauben Sie, dass eine Resolution die Kämpfe wird eindämmen können?
Was glauben Sie?
Nein, ich glaube nicht.
Das glaube ich auch. Sie wollen uns alle tot, wir nützen ihnen lebendig nichts mehr. Die Kriegsverbrechen sind schon lange bekannt und nicht neu. Was war mit dem Hilfskonvoi vor wenigen Tagen, den die Russen bombardierten? Es wurde ein Waffenstillstand vereinbart, Assad und die Russen haben ihn gebrochen, das alles hat Methode, sie kümmern sich einen Dreck um die Meinung im Westen, sie wollen alles auslöschen. Die UNO kann hier nichts mehr tun.
Glauben Sie, dass das Bündnis von Rebellen, Islamisten und der Freien Syrischen Armee den Ostteil noch lange halten wird können?
Ich hoffe es und glaube immer noch an einen Sieg, wir haben Allah auf unserer Seite, und unsere Leute sind richtige Kämpfer. Die Armee von Assad ist ein Haufen Feiglinge, sie würden davon laufen, wenn sie nicht die Russen hätten.
Aber gibt es überhaupt noch genug Waffen und Munition? Aleppo ist eingekesselt und es gibt kaum noch Nachschub.
Es wurden viele Waffen von der syrischen Armee erbeutet, ich glaube, dass die Rebellen noch länger in der Lage sind hier entgegenzuhalten. Und es melden sich immer mehr, die gegen Assad in den Kampf ziehen. Auch meine Kinder haben mich gefragt, ob sie an die Front dürfen.
Wie alt sind Ihre Kinder?
Noch klein, der ältere Sohn wird 15. Aber ich erlaube nicht, dass die Kinder diese Gedanken haben, ich möchte sie zum Frieden erziehen.
Es ist erstaunlich, dass Assad sich immer noch in und um Damaskus relativ sicher bewegen kann. Er gibt ausländischen Medien Interviews, zeigt sich im Fernsehen, besucht den Frontverlauf. Der Krieg dauert nun schon mehr als fünf Jahre, es wurde noch nie von einem Umsturzversuch innerhalb des Regimes berichtet. Warum ist Assad so sicher?
Er wird gut geschützt. Die Russen und die Iraner halten ihre Hand über ihn. Wenn sie ihn fallen lassen, ist er binnen weniger Tage tot. Aus Damaskus wird berichtet, dass immer mehr Iraner dort Wohnungen und Häuser beziehen, sie schützen Assad und sein Umfeld.
Ist ein Frieden in Syrien überhaupt in absehbarer Zeit noch möglich?
Ja, aber nur ohne Assad.
Aber auch ohne Assad gibt es keine einheitliche Opposition, es gibt die unterschiedlichsten Gruppierungen, von den moderaten bis radikal islamistischen Gruppierungen bis hin zu den Kurden. Alle haben ihre eigenen Interessen. Wie soll das funktionieren?
Das Land wird geteilt werden, vielleicht in drei oder vier Teile, anders wird es nicht geben.
Aber das ist doch unrealistisch, dass das ohne weitere Kämpfe gehen wird.
Vielleicht, aber alles ist besser, als weiterhin das Assad-Regime.
Werden Sie in Syrien bleiben?
Ich habe kein Geld um zu fliehen, ich versuche hier zu helfen, ich gebe in Idlib Englischunterricht, versuche mit meiner Familie zu überleben.
Was erwarten Sie sich vom Westen?
Nichts mehr. Der Westen hat schon lange sein Augen, vor allem aber sein Herz verschlossen.
Was vor mehr als fünf Jahren mit friedlichen Demonstrationen in einer Provinzstadt begann, hat sich mittlerweile zu einem komplexen Bürgerkrieg mit internationaler Dimension ausgeweitet. Der Konflikt wird auch von außen immer weiter angefacht. Er ist schwer lösbar, weil es viele Akteure mit vielen unterschiedlichen Interessen sowie ein kompliziertes Netz gegenseitiger Abhängigkeiten gibt.
REGIME: Anhänger von Präsident Bashar al-Assad kontrollieren weiter die meisten großen Städte wie Damaskus, Homs, Teile Aleppos sowie den Küstenstreifen am Mittelmeer. Syriens Armee hat allerdings viele Soldaten verloren und wird vor allem durch russische Kampfjets, iranische Kämpfer und die Schiitenmiliz Hisbollah unterstützt. Auch Verbände aus Afghanistan und dem Irak sollen aufseiten des Regimes kämpfen.
ISLAMISCHER STAAT (IS): Die Terrormiliz hat in den vergangenen Monaten große Teile ihres Gebietes verloren, herrscht aber immer noch in vielen Städten entlang des Euphrats und in Zentralsyrien.
REBELLEN: Unzählige Rebellengruppen kämpfen in Syrien - von als moderat geltenden Gruppen, die vom Westen unterstützt werden, bis zu radikalen Islamisten, wie der früheren Al-Nusra-Front. Immer wieder gehen die verschiedenen Truppen zeitweise Zweckbündnisse ein.
KURDEN: Kurdische Streitkräfte beherrschen mittlerweile den größten Teil der Grenze zur Türkei. Sie sind ein wichtiger Partner des Westens im Kampf gegen den IS. Sie kämpfen teilweise mit Rebellen zusammen, kooperieren aber auch mit dem Regime in Damaskus.
USA UND DER WESTEN: Washington führt den Kampf gegen den IS an der Spitze einer internationalen Koalition. Kampfjets fliegen täglich Angriffe. Beteiligt sind unter anderem Frankreich und Großbritannien. Deutschland stellt unter anderem sechs Tornados für Aufklärungsflüge.
RUSSLAND: Seit einem Jahr fliegt Russlands Luftwaffe Angriffe in Syrien und steht an der Seite von Machthaber Assad. Russland bekämpft offiziell den IS, greift aber den Angaben zufolge immer wieder auch moderatere Rebellengruppen an, die Seite an Seite mit Dschihadisten kämpfen.
IRAN: Teheran ist der treueste Unterstützer des Assad-Regimes. Nach Angaben Teherans sind Mitglieder der iranischen Revolutionsgarden als militärische Berater der syrischen Armee im Einsatz.
SAUDI-ARABIEN UND DIE TÜRKEI: Riad und Ankara sind wichtige Unterstützer von Rebellen. Sie fordern den Sturz Assads. Saudi-Arabien geht es darum, den iranischen Einfluss zurückzudrängen. Der Iran ist der Erzrivale der Saudis im Nahen Osten. Die Türkei will eine größere Selbstbestimmung der Kurden in Nordsyrien verhindern.
Vergleich: Aleppo, Sarajevo, Guernica
Angesichts der aussichtslosen Lage in der belagerten syrischen Stadt Aleppo hat der französische UN-Botschafter Francois Delattre einen historischen Vergleich mit Sarajevo und Guernica gezogen:
ALEPPO ist die am heftigsten umkämpfte Stadt in dem seit mehr als fünf Jahren tobenden Krieg in Syrien. Als neben Damaskus größte Stadt des Landes hat sie im Bürgerkrieg einen hohen strategischen und symbolischen Wert. Eine vollständige Eroberung könnte zu einem militärischen Wendepunkt werden. Die Altstadt mit ihrer Zitadelle gehört zum Unesco-Weltkulturerbe, ist aber durch Luftangriffe mittlerweile weitgehend zerstört. Vor dem Bürgerkrieg war Aleppo die Handelsmetropole im Norden Syriens. Einst lebten dort mehr als zwei Millionen Menschen.
SARAJEVO, Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas, steht für die längste Belagerung einer Stadt im 20. Jahrhundert. Der Bürgerkrieg war nach der Unabhängigkeitserklärung der früheren jugoslawischen Teilrepublik im März 1992 ausgebrochen. Serben riegelten Sarajevo fast vier Jahre lang von der Außenwelt ab und beschossen es von den umliegenden Bergen aus. Der Beschuss des Marktplatzes von Markale mit Dutzenden Toten im August 1995 löste schließlich Nato-Angriffe auf die serbischen Belagerer aus - der Anfang vom Ende der Blockade. Im Dezember 1995 wurde in Paris der in Dayton (Ohio/USA) ausgehandelte Friedensvertrag unterzeichnet.
GUERNICA ging als erste Stadt Europas in die Geschichte ein, deren Zivilbevölkerung die Schrecken des modernen Krieges durch ein systematisches Bombardement aus der Luft erleiden musste. Die Flugzeuge der deutschen "Legion Condor" legten die Kleinstadt am 26. April 1937 in Schutt und Asche. Die Zahl der Opfer konnte nie genau festgestellt werden, weil auch Tausende Flüchtlinge dort lebten. Das Nazi-Regime hatte die "Legion Condor" nach Spanien geschickt, um den späteren Diktator Francisco Franco im Bürgerkrieg (1936-1939) gegen die Truppen der republikanischen Regierung zu unterstützen.
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