Höchstpreise für ein Kellerloch

Keine Schule, keine Kleider für den Winter, keine Aussicht auf Heimkehr: Wie so oft trifft die Flüchtlingskatastrophe die Kinder am härtesten.
Millionen von Syrern sind in den Nachbarländern gestrandet. Die stehen vor dem Kollaps.

Bis heute versteht Mahmoud nicht, warum sie seinen Bruder Hani erschossen haben, damals an der Straßensperre bei Homs. „Eine Waffe soll er gehabt haben“, packt den jungen Syrer noch heute, ein Jahr später, verzweifelte Wut: „Was für ein Unsinn. Die einzige Waffe, die er hatte, war sein Rasiermesser.“

Friseur war Hani, so wie auch Mahmoud. Gemeinsam haben sie das Geschäft geführt, bis der Krieg nach Homs kam und die Lage Tag für Tag chaotischer wurde. Wer die Mörder seines Bruders tatsächlich waren, das will und kann der 32-Jährige auch heute nicht sagen. Auch hier im Nachbarland Jordanien ist der Bürgerkrieg gefährlich nahe. Sich offen auf eine Seite zu stellen, kann böse Folgen haben – zumindest für die Verwandten, die noch in Syrien sind. Mahmouds Schwester ist in Homs geblieben, manchmal telefoniert er mit ihr, hört von Verhaftungen in der Nachbarschaft, von zerstörten Häusern und dass das eigene zum Glück noch steht.

„Hier ist alles ganz anders“ erzählt er über die Tage in Irbid, einer Stadt unweit der syrischen Grenze: „Es ist sicher, ruhig – und wahnsinnig teuer.“

Mahmoud, seine schwangere Frau und die zwei Kinder haben Glück gehabt. Etwas mehr als 100 Euro zahlt er pro Monat für den Raum, der eigentlich eine Werkstatt in einem Haus für Gewerbebetriebe ist. Es ist hell, trocken, es gibt eine Kochmöglichkeit – und ein paar Gassen weiter zahlen andere syrische Flüchtlinge fast das Dreifache für ein Kellerloch. Trotzdem findet sich für jedes dieser Löcher eine Familie, die dafür Unsummen zahlt – oft bis sie bis zum Hals in Schulden stecken und delogiert werden.

Taglöhner

Als Friseur findet Mahmoud zumindest gelegentlich Arbeit, manchmal auch als Elektriker. Tagelöhnerjobs, so wie sie auch all die anderen der Hunderttausenden Syrer suchen, die nach Jordanien geflohen sind. „Das zerstört natürlich den Arbeitsmarkt“, schildert Matthew, Mitarbeiter der Hilfsorganisation CARE, die wachsenden Spannungen: „Immer mehr Firmen und Geschäfte nehmen jetzt Syrer auf, weil die billiger sind. Die Jordanier werden entlassen.“

Nur eines der Probleme, die die Flüchtlingswelle nach Jordanien gebracht hat. Die Wohnungspreise sind explodiert, Lebensmittel kosten plötzlich ein Vielfaches und in vielen Gegenden wird das Wasser knapp.

Für die Hilfsorganisationen eine heikle Aufgabe. Da die meisten syrischen Flüchtlinge nicht in einem Lager, sondern in Städten und Dörfern untergekommen sind, ist es viel schwieriger, sie zu versorgen. Bankomatkarten werden ausgegeben, so kann jede Familie die etwa 100 Euro, die sie monatlich bekommen, selbst verwalten. Dazu kommen Hilfsgüter wie Heizöfen, Decken oder Kleider, um über den nahenden Winter zu kommen.

Und um den geht es jetzt fürs Erste. Wirklich langfristige Planungen für diese Hunderttausenden Menschen sind kaum möglich. Jordanien hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten viele leidvolle Erfahrungen mit Flüchtlingswellen gemacht, aus den Palästinensergebieten oder zuletzt dem Irak.

Gastfreundschaft

Die für die Araber heilige Gastfreundschaft hat Unglaubliches möglich gemacht, auch weil viele Familien enge Verwandtschaftsbeziehungen ins Nachbarland haben. Jetzt aber noch einmal eine Million Menschen – so die inoffiziellen Flüchtlingszahlen – auf Dauer unterzubringen, ist für viele nicht mehr vorstellbar.

Die Sicherheitsbehörden reagieren. Zwar sind die Grenzen nach Jordanien für Syrer offiziell weiterhin offen, doch strengere Kontrollen haben den Flüchtlingsstrom von täglich mehreren Tausend auf ein paar Hundert reduziert. Beobachter sprechen von riesigen improvisierten Lagern mit gestrandeten Flüchtlingen jenseits der Grenze.

„Wollen nach Hause“

Höchstpreise für ein Kellerloch
Doch kaum ein Syrer ist mit dem Gedanken gekommen, hier zu bleiben. „Unglaubliche Patrioten“ seien das, meint ein Mitarbeiter des UN-Flüchtlingswerks UNHCR bewundernd, „für die hat Heimat wirklich eine Bedeutung, das hab ich selten noch wo so intensiv erlebt – und darum wollen die meisten so rasch wie möglich wieder nach Hause.“

Doch dieses Zuhause – das ist die Stimmung, die sich hier unter den Syrern allmählich festsetzt – ist irgendwo zwischen den Fronten, zerstört, besetzt und unerreichbar weit weg.

Doch es geht um mehr als ein Zuhause, es geht um Besitz, einen Beruf, die Schule der Kinder. All das existiert für viele jetzt nur noch in der Erinnerung, und manchen wird langsam klar, dass sie vielleicht nie wieder in dieses Leben zurückkehren werden. Wenn es so bleibt, meint Hasan aus Aleppo resignierend, „dann hat es keinen Sinn, dorthin zurückzugehen“. Und dann drängt sich ihm angesichts des Reporters aus Österreich eine Frage auf: „Und bei euch in Europa, gibt es da eine Chance?“

„Ich bin mit meinen fünf Töchtern hierher nach Jordanien gekommen. Wir hatten ein Geschäft in Damaskus und lebten sehr angenehm. Dann hat die syrische Armee eine meiner fünf Töchter verschleppt, ich wusste über Wochen nicht, was mit ihr passierte. Als sie zurückkam, wurde mir klar, dass wir fort müssen. Wir haben alles hinter uns gelassen, nur den Schmuck und ein paar Goldmünzen mitgenommen. Das alles verkaufe ich jetzt Stück für Stück, es reicht trotzdem nicht. Mein Mann hat sogar einen Job hier gefunden, bei einem ehemaligen Geschäftspartner. Ich will weiter nach Europa, in Syrien weiterhin zu leben, ist einfach unmöglich geworden.“

„Ich war Immobilienhändler in Aleppo, ich habe Wohnungen verkauft, das Geschäft lief gut. Unser Haus ist bei einem Angriff der syrischen Armee zerstört worden. Ich bin sofort raus, habe meine Frau aus den Trümmern geholt und bin mit ihr geflohen. Ich bin jetzt ein Jahr hier, aber meine Tochter ist in Aleppo geblieben. Ihr Mann wollte nicht flüchten. Wir telefonieren regelmäßig, sie wohnt in einem bis jetzt sicheren Teil der Stadt, aber das kann sich ständig ändern. Unser Problem hier ist die viel zu hohe Miete für den Kellerraum, in dem wir wohnen. Ich glaube, wir haben hier keine Zukunft, und wenn es in Syrien so weitergeht, können wir auch dorthin nicht zurück.“

„Wir kommen aus der Gegend von Daraa unweit der Grenze. Als die Gefechte in unserem Dorf ausgebrochen sind, sind alle fort. Die Rebellen haben uns über die Grenze geschmuggelt, das hat mich meinen Schmuck gekostet. Wir sind mit unserem behinderten Sohn, einer Tochter und 5 Enkelkindern gekommen. Wir können die Miete hier nicht mehr lange zahlen, wir haben schon alles verkauft. Wir haben uns überlegt, zurück nach Syrien zu gehen, weil wir hier keine Hoffnung mehr haben. Mein Mann ist zu alt, um noch Arbeit zu finden. Wir verbringen die ganze Zeit in dieser Wohnung, weil wir nicht sicher sind, wer unsere Nachbarn sind, und wie sie zum Regime stehen.“

„Ich habe meinen Mann bei einem Bombenangriff verloren. Er war Schuldirektor in der Gegend von Daraa. Die Schule wurde getroffen, als er die Zeugnisse austeilte. Ich bin dann mit den Kindern geflohen. Wir sind in Irbid angekommen und haben eine Unterkunft bei einem Verwandten gefunden, der schon vor uns geflohen ist. Da ich Witwe war, konnte ich die ersten drei Monate das Haus nicht verlassen. Daher war ich anfangs auch nicht beim UNHCR registriert. Meine Kinder sind alle noch klein und ich muss mit dem Geld, das ich als monatliche Hilfe bekomme (etwa 130 Euro, Anm.), auskommen. Das Problem ist, dass die Preise ständig steigen, vor allem für uns Syrer.“

Wintereinbruch

Der Winter steht auch im Nahen Osten vor der Tür. Den Hundert- tausenden Flüchtlingen, die im Libanon und in Jordanien not- dürftig untergekommen sind, fehlt es an allem, um ihn zu über- stehen. Gemeinsam mit Partnern wie der Caritas, Care und dem Roten Kreuz kümmert sich die ORF-Aktion „Nachbar in Not“ um die Versorgung mit Decken, Kleidung und Heizöfen. Die Familien erhalten auch direkte finanzielle Hilfen, um so die lokale Wirtschaft zu unterstützen.

Spendenmöglichkeiten

online unter www.nachbarinnot.at,

Kto.Nr.: 40040044000,

Blz: 20111, Kennwort: „Flüchtlingshilfe Syrien

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