Syrien-Flüchtlinge: Eine Million sind Kinder

Die meisten der vertriebenen Buben und Mädchen sind traumatisiert. Viele von ihnen müssen mit Kinderarbeit das Überleben der Familie sichern
Die UNO schlägt Alarm: Die Folgen des Krieges treffen mit voller Wucht die Kleinsten.

Die meisten von ihnen sind schwer traumatisiert, sie leiden an Schlaflosigkeit, manche sind wieder zu Bettnässern geworden, andere habe zu stottern begonnen – es sind die Kinder, die der Bürgerkrieg in Syrien am härtesten trifft. Mehr als eine Million Minderjährige mussten bereits ihre Heimat verlassen und leben jetzt teils unter unmenschlichen Bedingungen. Das bedeutet: Jeder Dritte der offiziell drei Millionen syrischen Flüchtlinge ist ein Bub oder ein Mädchen. Rechnet man die im Bürgerkriegsland Vertriebenen dazu (sechs bis sieben Millionen), heißt das, dass sich jeder zweite Syrer auf der Flucht befindet.

Eindringlicher Appell

„Die Welt muss eine Generation leidender Kinder vor der Katastrophe retten“, forderte die Schauspielerin Angelina Jolie in ihrer Funktion als Sondergesandte des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR). Dessen Chef Antonio Guterres spricht von der größten Flüchtlingstragödie seit dem Völkermord in Ruanda 1994. Die Nachbarländer seien dem Ansturm nicht gewachsen. Allein in Jordanien leben 600.000 Syrer, davon fast 300.000 Minderjährige.

Viele der Kleinen mussten mitansehen, wie Familienmitglieder getötet wurden. Tausende müssen gänzlich ohne Eltern auskommen, weil sie von diesen auf der Flucht getrennt oder Vater und Mutter Opfer des Krieges wurden.

Ein Großteil der Buben, heißt es in dem am Freitag veröffentlichten UNHCR-Bericht weiter, sei zudem zur Kinderarbeit gezwungen, um das Überleben in der Fremde zu sichern. „Ich arbeite von sechs Uhr abends bis fünf Uhr in der Früh in einer Billard-Halle. Und das sechs Tage die Woche“, sagte der 13-jährige Samir dem britischen Guardian. Dafür erhält der Bursch, der Kaffee und Tee serviert sowie die Tische säubert, gerade einmal vier Dollar pro Nacht. Ist es auch noch so wenig – seine Familie braucht jeden Dollar, zumal der Vater bei einem Bombenangriff in Homs ums Leben kam. In Jordanien ist jede zweite Flüchtlingsfamilie ganz oder teilweise auf die finanzielle Unterstützung ihrer Kinder angewiesen.

Geflüchtete Mädchen wiederum haben andere Sorgen: Aus Furcht vor Übergriffen erlauben ihre Eltern ihnen kaum, die Unterkunft zu verlassen, was zu Isolation führt.

Ein weiteres Problem haben Burschen wie Mädchen gleichermaßen: Viele können keine Schule besuchen. Und wenn doch, mangelt es an Materialien, hinreichenden Unterrichtsräumlichkeiten und Lehrpersonal.

Kinder auf der Flucht

Schwere Vorwürfe erhebt der christliche Theologe Najib George Awad gegen die Kirchenführer in seiner syrischen Heimat: „Sie haben sich zumindest am Beginn des Konflikts klar auf die Seite des Regimes (von Machthaber Bashar al-Assad) gestellt und dabei dessen Brutalität und Korruptheit völlig ignoriert“, so der Professor, der derzeit in Connecticut, USA, lehrt. Sie hätten dies aus „purem Eigeninteresse“ getan, um ihre Stellung nicht zu gefährden. „Für sie geht es um Sein oder Nichtsein.“ Doch durch diese Parteinahme sei die Kluft zwischen Christen und anderen religiösen und ethnischen Gruppe erst so richtig aufgegangen, meint Awad im KURIER-Gespräch.

Unter den immer stärker bedrängten Christen erkennt der protestantische Theologe drei Strömungen: „Das sind jene, die Assad unterstützen, weil sie meinen, ohne ihn würden sie nicht im Land bleiben können. Andere haben sich auf die Seite der Revolution geschlagen. Und dann gibt es die stumme Mehrheit, die sich zurückzieht, weil sie Angst vor der Unterdrückung des Regimes und vor der Gewalt bestimmter extremistischer Rebellen-Organisationen hat.“

Verantwortlich für die Eskalation der Gewalt macht der Experte Assad und die islamistischen Kräfte, die in weiten Landstriche dominieren, gleichermaßen. „Die haben sich auf halbem Weg getroffen.“ Weil dazu auch noch ausländische Kräfte mitmischten (Russland, Iran, Türkei, Saudi-Arabien und Katar) sei Syrien zu dem verkommen, was es derzeit sei – „ein blutiges Schlachtfeld“, das total fragmentiert sei. „Den Norden kontrollieren die Muslim-Extremisten, den Nordosten die Kurden, die Ostküste und Damaskus hält nach wie vor Assad und im Süden hat die ,Freie Syrische Armee‘ ein paar Hochburgen“, sagt Awad, der auf Einladung der „Initiative Frieden für Syrien“ jüngst in Wien war.

Syrisches Mosaik

Ihm schwebt ein „multi-ethnisches und multi-religiöses“ Gebilde vor, was Syrien über Jahrhunderte lang ausgemacht habe. Die Demokratiebewegung, die zwar nicht mehr in dem Ausmaß wie früher, aber immer noch fast täglich auf die Straße gehe und eine friedliche Wende fordere, träume nach wie vor von diesem „syrischen Mosaik“.

Doch der Theologe ist nicht sehr optimistisch. Von den für Jänner geplanten Verhandlungen in Genf erwartet er sich nicht viel: „Die gemäßigten Kräfte der Opposition und des Regimes werden wohl zu einer Übergangsregierung gezwungen werden, deren Hauptaufgabe dann sein wird, die Islamisten zu bekämpfen. Das hat aber noch nichts mit einem Aufbau von demokratischen Strukturen zu tun.“

Und Assad? Der werde so lange die Macht nicht abgeben, ehe er Zusagen für ein freies Geleit ins Exil erhalte.

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