Drei Millionen Kinder auf der Flucht
Vor einem Jahr hat US-Präsident Barack Obama von der „roten Linie“ gesprochen – und damit den Einsatz von Giftgas in Syrien gemeint. Jetzt scheint diese Demarkationslinie überschritten, am Mittwoch wurde in mindestens zwei Vororten von Damaskus allem Anschein nach eine chemische Substanz frei gesetzt wurde, die Menschen wie Fliegen dahinraffte. Wie viele Menschen tatsächlich dabei starben, ist noch unklar – die Opposition in Syrien spricht von bis zu 1300 Opfern.
Auch westliche Geheimdienste gehen Insidern zufolge nach ersten Ermittlungen von einem Giftgas-Einsatz der syrischen Armee am Mittwoch nahe Damaskus aus. In den amerikanischen und europäischen Sicherheitskreisen hieß es am Freitag zudem, der Angriff sei offenbar von höherer Stelle genehmigt worden. Betont wurde jedoch, dass es sich um erste vorläufige Ergebnisse handle. Es könne Tage, Wochen oder noch länger dauern, bis Beweise vorlägen. Aus US-Kreisen verlautete zudem, möglicherweise sei der Angriff von einem örtlichen Kommandanten angeordnet worden.
Die humanitäre Lage verschlechtert sich währenddessen zusehends. Wie das UN-Flüchtlingshochkommissariat jetzt mitgeteilt hat, seien allein drei Millionen Kinder in Syrien auf der Flucht – die Hälfte aller Vertriebenen sei unter 18.
McCain will militärische Lösung
Die USA sehen dennoch keinen akuten Handlungsbedarf – bislang hat US-Präsident Barack Obama noch immer auf eine diplomatische Lösung der Krise plädiert. Sein ehemaliger Gegner im Rennen um das Weiße Haus, der nach wie vor einflussreiche US-Senator John McCain, hat nun auf CNN ein sofortiges Einschreiten gefordert: "Man kann sich diese Bilder nicht anschauen, ohne tief bewegt zu sein. Wollen wir das einfach weitergehen lassen?", sagte er dort.
Er sei sich sicher, dass Assads Truppen Giftgas eingesetzt hätten: "Wenn Obama jetzt nicht handelt, kann das Wort des US-Präsidenten in der gesamten Region nicht mehr ernst genommen werden." Er forderte den US-Präsidenten auf, nicht länger zu zögern. Die USA seien in der Lage, die Flugzeuge der syrischen Streitkräfte zu zerstören; der Militäreinsatz wäre "einfach", mit "geringen Kosten verbunden“, auch Soldaten würden dabei nicht gefährdet.
Die US-Regierung zeigte sich davon nicht überzeugt: Es könne im Moment noch nicht "endgültig" bestätigt werden, dass Chemiewaffen eingesetzt worden seien, sagte Jennifer Psaki, Sprecherin des Außenministeriums. Die Regierung tue "alles in unserer Macht stehende", um die Fakten herauszufinden. Der Präsident habe die Geheimdienste angewiesen, alle Informationen zusammenzutragen. "Wenn diese Berichte wahr sind, wäre das eine empörende und abscheuliche Eskalation", sagte Psaki und bekräftigte die Dringlichkeit einer internationalen Überprüfung.
Hague: "Glauben an Chemieangriff"
Deutliche Worte fand unterdessen auch der britische Außenminister William Hauge: "Ich weiß, dass manche Menschen gerne sagen würden, es handelt sich um eine Art Verschwörung der syrischen Opposition. Ich glaube aber, dass die Chancen dafür verschwindend gering sind und daher glauben wir, dass es sich um einen chemischen Angriff des Regimes (von Präsident Bashar al) Assad handelt", sagte Hague am Freitag.
UNO-Team kommt nicht in bombardiertes Gebiet
Nach den mutmaßlichen Giftgasangriffen nahe Damaskus warten die UNO-Inspektoren allerdings auf eine offizielle syrische Genehmigung zur Untersuchung des Vorfalls. Regimegegner berichteten, die Regierungstruppen hätten ihre Angriffe auf Rebellenhochburgen am Stadtrand von Damaskus am Freitag mit unverminderter Härte fortgesetzt. Den Rebellen sei es gelungen, ein Vorrücken der Armee im Viertel Jobar zu verhindern. Die Vereinten Nationen hatten zuvor erklärt, die Chemiewaffenexperten, die sich in Syrien aufhalten, könnten die betroffenen Gebiete derzeit nicht in Augenschein nehmen. Dies wurde mit der schlechten Sicherheitslage im Umland von Damaskus begründet.
Russland und UNO fordern Konsequenzen
Auch Russland hat sich in den Konflikt eingeschaltet: Wie Reuters berichtet, habe Moskau Assad aufgefordert, mit den angereisten UNO-Waffenexperten zu kooperieren. Russland ist einer der wenigen verbliebenen Verbündeten des syrischen Machthabers, sein Wort hat dementsprechend viel Gewicht.
UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon hat indes mit "ernsten Konsequenzen" gedroht, falls sich die Berichte über Chemiewaffen-Angriffe bewahrheiten sollten. Der Einsatz solcher Waffen stelle ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" dar, sagte Ban am Freitag in Seoul. Ban forderte die beiden Bürgerkriegsparteien zu "vollständiger Kooperation" mit einem Team von UNO-Waffenexperten auf.
"Ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum eine der Parteien - sowohl die Regierungs- als auch die Oppositionskräfte - diese Gelegenheit ablehnen sollte, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen", betonte Ban.
Wenn langgediente Redakteure dieser Zeitung beim Anblick der jüngsten Bilder aus Syrien in Tränen ausbrechen – Bilder, die wir wegen ihrer unfassbaren Schrecklichkeit nicht abgedruckt haben – , hat das Ausmaß der Gräuel im syrischen Bürgerkrieg ein noch nie da gewesenes Ausmaß angenommen. Mögen es Hunderte Tote gewesen sein oder mehr als Tausend, wie die syrische Opposition beklagt – jedes einzelne Opfer des verheerenden Giftgasangriffes vom Mittwoch war ein Opfer zu viel.
Was, wenn nicht dieses jüngste Massaker, stellt die „rote Linie“ dar? Jene Grenze, die Syriens Regime keinesfalls überschreiten darf, ohne schwer sanktioniert zu werden, wie US-Präsident Obama vor genau einem Jahr angedroht hatte. Noch ist nicht bewiesen, dass Syriens Machthaber Bashar al-Assad und seine Armeeführung für den Giftgasangriff verantwortlich sind – auch wenn einige westliche Militärgeheimdienstquellen bereits davon ausgehen. Und eine rasche Untersuchung des Massakers durch UNO-Experten scheint in weiter Ferne, solange die UNO-Vetomacht Russland wieder einmal alles blockiert, was das mit ihr verbündete syrische Regime gefährden könnte.
Diktator Assad hat also weiterhin wenig zu befürchten, schon gar kein militärisches Eingreifen, das seiner Armee Einhalt gebieten würde. Ohnmächtig, hilflos und gespalten steht die Internationale Gemeinschaft wieder einmal den Gräueln in Syrien gegenüber – ebenso wie den jüngsten Ereignissen in Ägypten, Tunesien und Libyen. Eine böse Erkenntnis für Millionen Syrer: Assad hat freie Hand, und wie in den vergangenen zwei Jahren oft bewiesen, überhaupt keine Skrupel, diese Freiheit auch todbringend einzusetzen.
Angesichts der Vorwürfe eines Giftgas-Einsatzes im syrischen Bürgerkriegs haben mehrere Politiker Konsequenzen angedroht. Im Folgenden die Zitate:
US-Präsident Barack Obama am 20.8.2012 in Washington: "Wir haben dem (Assad-)Regime, aber auch anderen Akteuren vor Ort unmissverständlich klar gemacht, dass es für uns eine Rote Linie wäre, wenn wir sehen, dass ein ganzes Bündel Chemiewaffen bewegt wird oder zum Einsatz kommt. Das würde meine Kalkulationen ändern."
Obama am 3.12.2012 bei einem Symposium am National War College in Washington: "Wenn Sie den tragischen Fehler begehen, diese Waffen einzusetzen, wird dies Konsequenzen haben und Sie werden dafür zur Verantwortung gezogen."
Deutschlands Außenminister Guido Westerwelle am 4.12.2012 in Brüssel: "Das Regime Assad muss wissen: Der Einsatz von Chemiewaffen wäre in gar keiner Weise akzeptabel. Das wäre eine Rote Linie, wie wir es alle gemeinsam im Bündnis sehen."
Außenminister Michael Spindelegger am 22.08.2013: "Der Einsatz von Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung wäre für die internationale Staatengemeinschaft völlig inakzeptabel und eine eklatantes Verbrechen des Assad-Regimes."
Obama am 20.3.2013 bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu in Jerusalem: "Ich habe klar gemacht, dass der Einsatz von Chemiewaffen die Situation grundsätzlich verändern würde."
Der britische Premierminister David Cameron am 26.4.2013 im BBC-Fernsehen: "Aber dies ist extrem ernst. Und ich glaube, was Präsident (Barack) Obama gesagt hat, ist absolut richtig: Dies sollte für die internationale Gemeinschaft eine rote Linie bedeuten, um mehr zu tun."
US-Außenminister John Kerry am 5.06.2013 in Guatemala: "Die rote Linie des Präsidenten ist echt."
Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu am 22.8.2013 nach einem Treffen mit Westerwelle in Berlin : "Es sind zahlreiche rote Linien, die schon überschritten worden sind. Wenn nicht sofort Sanktionen erfolgen, verlieren wir die Macht, abschreckend zu wirken."
Frankreichs Außenminister Laurent Fabius am 22.8.2013: "Wenn das (Angriffe mit Chemiewaffen) wahr ist, ist eine Reaktion notwendig, allerdings nicht mit Bodentruppen. Wenn das wahr ist, ist nicht nur eine internationale Verurteilung notwendig, sondern eine Reaktion - ich bin da nicht präzise - der Stärke."
UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon am 23.8.2013 in Seoul: "Solch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sollte ernste Folgen für die Täter haben."
US-Präsident Barack Obama am 23.8.2013 in Washington: "Es besteht kein Zweifel, dass es sehr beunruhigend ist, wenn man sieht, dass Chemiewaffen in großem Maßstab eingesetzt werden, und das berührt langsam Kerninteressen der USA, sicherzustellen, dass Massenvernichtungswaffen sich nicht verbreiten, und unsere Verbündeten und Stützpunkte in der Region zu schützen."
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