Eine Autorin im Ukraine-Krieg: „Die Worte sind unser Gewehr“
Sie ist Autorin, Übersetzerin und Sprachlehrerin. Svetlana Lavochkina steht noch unter Schock, als sie der KURIER am Donnerstag in ihrem Urlaub in der Türkei erreicht. Der Krieg in ihrem Mutterland ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal fünf Stunden alt.
Dennoch will sie reden, ihre Stimme für ihr Mutter- und Vaterland erheben. Weil sich die Nachrichten aus der Ukraine seither fast stündlich überschlagen, wurde dieses Interview erst nach mehreren emotionalen Telefonaten am Samstag finalisiert.
Svetlana Lavochkina ist eine vom Krieg in der Ukraine persönlich Betroffene. Sie lebte bis zur Geburt ihres ersten Sohns vor 22 Jahren in Saporischja. Das ist die sechstgrößte Stadt in der Ukraine, am Dnepr. Sie weiß dort und auch in anderen Landesteilen langjährige Freunde aus ihrer Schul- und Studienzeit, auch etliche gute Bekannte aus dem verzweigten ukrainisch-sprachigen Literaturbetrieb.
Heute unterrichtet die Tochter einer Klavierlehrerin und eines Ingenieurs an einer Waldorf-Schule in Leipzig, übersetzt Literatur aus dem Ukrainischen ins Englische und schreibt Romane, in denen sie auf die im Westen wenig bekannte Geschichte ihres Heimatlandes eingeht.
Nach ihrem Romandebüt (deutsch: „Puschkins Erben“) erscheint am Dienstag die deutsche Übersetzung ihres neuen Romans mit dem Titel „Die rote Herzogin“.
KURIER: Frau Lavochkina, hat Sie der militärische Angriff auf die Ukraine überrascht?
Lavochkina: Die Vorahnung gab es. Aber bis zur letzten Sekunde hofft man, dass es doch irgendwie vorbeigeht, noch ein Wunder geschieht. Ich habe in der Nacht auf Donnerstag so gut wie nicht geschlafen. In der Früh sah ich es gleich auf meinem Mobiltelefon. Ich bin sehr eng vernetzt mit meinen Freunden in der Ukraine. Ich habe seither so eine riesige Angst um ihr Leben.
Wie geht es Ihren Freunden?
Ich muss ihnen sagen: Keiner von ihnen wirkte in den ersten Stunden nach dem Angriff verängstigt. Aufgeregt schon. Aber sie haben sich schnell konsolidiert und raten sich seither gegenseitig, nicht in Panik zu geraten. Sie haben auch vor zu kämpfen.
Sind Sie weiterhin mit allen, die Sie nun in einem Krieg wissen, noch in Kontakt?
Ja. Meine ganze Familie kontaktiert rund um die Uhr alle unsere Liebsten, Freunde, Kollegen und Kameraden in der Ukraine. Um sich auch zu vergewissern, ob sie noch am Leben sind. Um sie zu trösten und ihnen Mut zu geben. Um zu erfahren, wie wir praktisch helfen können. Um die Wahrheit über das Geschehen im Westen verbreiten zu können.
Was wollen Ihre Landsleute der Welt mitteilen?
Mich berühren die Worte von Elena Djomina, sie ist Hotelmanagerin in meiner Heimatstadt: „Wir haben keine Angst zu sterben. Wir haben Angst, einzuschlafen und in einem falschen Land aufzuwachen. Es bleibt uns nichts Anderes übrig, als unserer kleinen Armee zu vertrauen, denn wir wurden von der ganzen Welt im Stich gelassen. Nach außen zeigen wir Mut, aber hinter geschlossenen Türen, wenn uns keiner sieht, dann weinen wir."
Sie werden von der Kritik als Weltbürgerin beschrieben. Der Tag, an dem russische Soldaten in Ihre Heimat einmarschieren, ist der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um Sie auf Ihre Toleranzgrenze anzusprechen. Dennoch will ich Sie fragen: Werden auch Sie für die Rückeroberung der Ukraine kämpfen?
Wenn das Land, aus dem man kommt, bedroht wird, fühlt man sich als Autorin in der Diaspora dazu verpflichtet, mit Worten zu kämpfen. Die Worte sind unser Gewehr.
Sie haben sich bisher als eine Kulturvermittlerin zwischen Ost und West verstanden, deshalb auch viel Poesie aus dem Ukrainischen vor allem ins Englische übersetzt.
Ja, das hat auch damit zu tun, dass unsere ukrainische Literatur speziell seit dem Jahr 2014 eine Blüte erlebt. Leider nicht zuletzt wegen des andauernden Kriegs in unserem Land. Der Krieg ist immer ein Katalysator. Er bietet viel Stoff, viel Fleisch.
In Ihren Romanen haben Sie sich mit Stalin als Person und mit der Breschnew-Zeit per se beschäftigt. Stellt sich die Frage: Bietet Ihnen Putin auch literarischen Stoff?
Ich sage Ihnen jetzt, was ich mir denke. Ob Sie das schreiben möchten, das liegt bei Ihnen: Putin ist für mich eine dumme, zu verachtende Botox-Kreatur, die den Bezug zur Realität längst verloren hat. Er ist es nicht wert, für ewig in die Literatur aufgenommen zu werden. Vielleicht verändert das die Politur der Zeit, vielleicht werden das nachfolgende Generationen anders bewerten. Es ist ein Spiel des Schicksals, dass so eine unwürdige Person Russland leitet. Die Russen in ihrer Masse verdienen ihn anscheinend. Er spricht die Sprache, die viele Menschen dort verstehen und in der sie auch angesprochen werden wollen. Wobei ich anmerken möchte, dass es auch viele kluge, weitblickende Russen gibt, die sich schämen für das, was Putin macht. Ich hoffe nur, dass der Anteil dieser Menschen größer wird.
Kann da die Zivilgesellschaft auf beiden Seiten der Grenze etwas bewirken?
In Wahrheit ist alles viel komplizierter: Es gibt heute so viele gemischte Familien in Russland und in der Ukraine. Da gehen die Gräben und die Dispute quer durch. Heute ist es jedenfalls so, das sage ich aus meiner ersten Emotion heraus ganz offen: Auf den Tod werden wir Ukrainer mit dem Tod antworten.
Das klingt nach einem lange andauernden Guerillakrieg.
Putin glaubt, den Krieg in der Ukraine schnell gewinnen zu können. Was er nicht versteht: Selbst ohne Regierung und Hilfe des Westens wird die Ukraine niemals in die Knie gehen. Seit der Orangen Revolution, Euromaidan und der Revolution der Würde ist hier eine neue Generation herangewachsen. Das sind freie Bürger eines demokratischen europäischen Staates, die für ihre Freiheit einen hohen Preis bezahlt haben. Putin kann diesen Krieg nicht gewinnen. Er kann nur die Liste der Opfer sehr lang machen. Aber auch das hat sein Ende.
Dazu eine sehr persönliche Frage: Sie haben zwei Söhne, 22 und zehn Jahre alt. Wie erklären Sie den Beiden den Krieg in ihrem Mutterland?
Der Ältere ist sehr interessiert an Politik und kann sich sein eigenes Bild machen. Der Jüngere muss gerade miterleben, wie betrübt seine Eltern sind. Ich glaube, er hat heute gesehen, dass seine Mutter beim Frühstück geweint hat. Beide Kinder sind voll und ganz mit uns. Gleichgültig ist ihnen dieser Krieg nicht.
Fühlen Sie sich eigentlich sicher an Ihrem derzeitigen Wohnsitz in Deutschland?
Bis vor wenigen Tagen schon. Ich habe es auch sehr genossen, in einem schönen, sehr gut organisierten Land zu leben, das für seine Bürger vorausschauend plant. Doch nun bin ich mir nicht mehr so sicher: Wir könnten schon bald die nächsten sein.
Was bedeutet denn dieser neue Krieg für Europa?
In Leipzig steht gleich neben dem Zoo eine riesige Halle, die so groß wie zwei Fußballstadien ist. Das ist eine Tropenhalle, und sie wird „Gondwanaland“ genannt. Drinnen leben alle möglichen exotischen Tiere unter tropischen Klimabedingungen. Diese Halle wurde mit enormem finanziellen Aufwand gebaut. Besonders viel Augenmerk liegt aber auf der Wartung des Daches, denn das schützt vor Wind und Wetter. Vor ein paar Tagen bin ich dort – auf dem Weg zur Schule – vorbeigefahren. Und ich habe mir gedacht: Die Europäische Union ist „Gondwanaland“, und unsere Ukraine ist ihr schützendes Dach. Seit Donnerstag wird das Dach zerschossen.
Was erwarten Sie sich von der Europäischen Union?
Ich erwarte mir deutlich mehr Sensibilität gegenüber der Ukraine, vor allem auch von den linken Parteien in Europa. Sie sollen endlich damit aufhören, die irre Politik von Putin zu verteidigen. Und ich erwarte mir, dass man Flüchtlinge aus der Ukraine ohne viel Herumrederei auch in Deutschland und in Österreich aufnimmt. Seit dem Syrien-Krieg ist das leider nicht mehr selbstverständlich.
Die Autorin: Svetlana Lavochkina wurde 1973 in der ostukrainischen Großstadt Saporischja als Tochter jüdisch-stämmiger Eltern geboren. Dort hat sie Sprachen studiert. Seit 1999 lebt sie als Schriftstellerin, Übersetzerin und Lehrerin in Deutschland, in Leipzig.
Ihr Wirken: Die Sprache in ihrem literarischen Schaffen ist Englisch. Im deutschsprachigen Raum wurde sie mit der Übersetzung ihres Debütromans „Puschkins Erben“ bekannt. Am Dienstag erscheint nun ihr zweiter Roman.
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