Südkoreas neuer Präsident: Ein Linkspopulist als Retter der Demokratie?

Als in der Nacht des 3. Dezember gepanzerte Militärfahrzeuge vor den tausenden Demonstranten in Seoul auffuhren, war Lee Jae-myung bereits über den Zaun des Parlamentsgebäudes geklettert und hatte sich hinter aufeinandergetürmten Sofas im Plenarsaal verbarrikadiert.
Gemeinsam mit 189 weiteren Abgeordneten stimmte er für die Aufhebung des gerade erst von Präsident Yoon Suk-yeol verhängten Kriegsrechts. Der erste Putschversuch in Südkorea seit 46 Jahren - er scheiterte am sofortigen Widerstand der Zivilgesellschaft und der politischen Opposition.
Die historische Nacht lieferte Stoff für viele Heldengeschichten, doch niemand erzählte sie so geschickt wie Lee, der Oppositionsführer: Am folgenden Tag versammelte er tausende Anhänger für eine Mahnwache auf den Stufen des Parlamentsgebäudes, die Bilder gingen um die Welt.

Lee Jae-myung (mitte) auf den Stufen des Parlamentsgebäudes in Seoul.
Heute, ein halbes Jahr später, haben die Südkoreaner Lee Jae-myung zu ihrem neuen Präsidenten gewählt. Mit 51,7 Prozent der Stimmen lag er nach einer ersten Hochrechnung nach Schließung der Wahllokale klar vor Kim Moon-soo (39,3 Prozent), dem Kandidaten der People's Power Party (PPP) des gestürzten Putschisten Yoon.
Der 61-Jährige übernimmt ein tief gespaltenes Land, in dem viele ihn für den Retter der Demokratie halten. Vor allem Yoons Anhänger sehen in Lee jedoch einen Kommunisten, bezahlt von den Regimes in Nordkorea und China.
Wer ist der Mann, der die schwerste politische Krise seit Jahrzehnten lösen soll?
Fabrikunfall mit 13 Jahren
In erster Linie ist Lee ein Stehaufmännchen. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, sein Vater war arbeitslos und spielsüchtig. Wie seine älteren Geschwister brach auch Lee mit 13 Jahren die Schule ab, besorgte sich einen gefälschten Ausweis und begann, in Fabriken zu arbeiten.
Dann geriet er mit dem Arm in eine Industriepresse. Die Maschine zertrümmerte sein Handgelenk, doch eine Behandlung konnte sich die Familie nicht leisten. Bis heute kann er die linke Hand nicht beugen. Noch als Teenager beging Lee einen Suizidversuch, doch er überlebte. "Das war der wichtigste Tag meines Lebens", sagte er später.

Lee Jae-myung im abgelaufenen Präsidentschaftswahlkampf.
Er entschied sich, die Mittelschulreife nachzuholen, dann den High-School-Abschluss. Mit 31 Jahren wurde er Anwalt, spezialisierte sich auf Arbeitsrecht und wurde politisch aktiv. Anfang der 2000er-Jahre trat er der Demokratischen Partei bei und wurde zum Gesicht des linken Flügels.
Knappste Wahlniederlage jemals
Es ist eine Biografie wie gemacht für einen Kämpfer der Arbeiterklasse. Doch Lee war stets mehr Populist und Opportunist als linker Ideologe. Mit seinem Charisma, seinen unkonventionellen Forderungen - etwa nach einem bedingungslosen Grundeinkommen - und einem Talent, diese zu geeigneten Zeitpunkten im öffentlichen Diskurs anzubringen, arbeitete er sich vor fünf Jahren an die Spitze der Partei.

Lee Jae-myung (mitte) verlässt nach dem gescheiterten Putschversuch Yoon Suk-yeols in der Nacht des 3. Dezember das Parlamentsgebäude.
2022 kandidierte Lee erstmals für das Amt des Präsidenten. Dabei stand er ausgerechnet Yoon suk-Yeol gegenüber, der letztlich um weniger als ein Prozent vor Lee lag. Es war das knappste Ergebnis der südkoreanischen Geschichte. Der erbitterte Wahlkampf riss eine tiefe Furche zwischen das konservative und liberale Lager und machte die Parteichefs zu Erzfeinden.
Attentat überlebt
Im Jänner 2024 hatte der Oppositionsführer Lee gerade bei einem Auftritt gegen Yoons Regierung gewettert, da stach ihm ein psychisch kranker Anhänger des Präsidenten mit einem Messer in den Hals. Sicherheitskräfte überwältigten den Attentäter, Lee wurde im Krankenhaus notoperiert - und überlebte erneut.

Bei den folgenden Zwischenwahlen im Sommer 2024 gewann die DP deutlich und sicherte sich die Mehrheit im Parlament. Mit Lee an der Spitze blockierte die Opposition folglich jeden Budgetentwurf der Yoon-Regierung.
Sechs Monate lang gab sich der damalige Präsident dem Machtkampf hin, dann versuchte er, ihn mithilfe des Militärs zu gewinnen. Das Ende ist bekannt: Yoon ist gestürzt, steht wegen Hochverrats vor Gericht und hinterließ eine konservative Partei, die sich in der Aufarbeitung des Putschversuchs selbst zerfleischte.
Spätestens, als mehrere gemäßigte Konservative mitten im Wahlkampf in Lees Lager wechselten, war klar, dass zum ersten Mal ein ehemaliger Kinderarbeiter ins Blaue Haus, den südkoreanischen Präsidentenpalast, einziehen würde.
Wofür Lee Jae-myung als Präsident stehen wird
Viel Zeit hat er nicht, um sich dort einzuarbeiten. Während der monatelangen Staatskrise hat in den USA ein gewisser Donald Trump das Ruder übernommen, Südkorea mit einseitigen Zöllen in Höhe von 25 Prozent belegt und den nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un erneut als "sehr schlauen Typen" bezeichnet.
Gerade das Verhältnis zu den USA gilt es für Lee nun auszubalancieren. Der 61-Jährige hatte Südkoreas wichtigsten Partner in der Vergangenheit als "Besatzungsmacht" bezeichnet - eine Aussage, die er wiederholt zu revidieren versuchte.
Lee bespielt damit jenen Teil der koreanischen Gesellschaft, der fürchtet, die USA würden das Land unweigerlich in einen Krieg mit seinen Nachbarn hineinziehen. Gegenüber Nordkorea und China fordert er deshalb einen weniger konfrontativen Kurs. Setzt er das um, bliebe Lee auch als Präsident in der Rolle des Widerstandskämpfers. Um die gespaltenen Lager im Land zu einen, wird es mehr brauchen. Doch erstmals gibt es in Südkorea wieder Hoffnung auf ein Ende der Staatskrise.
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