Wie Südkoreas Präsident an der Zivilcourage des eigenen Volkes scheiterte
Dass Yoon Suk-Yeol das Kriegsrecht ausrief, war nicht weniger als ein Putschversuch. Erst am Tag danach wurde klar, wie knapp er verhindert werden konnte. Wie es nun weitergeht.
Mit einem Krachen brechen die Soldaten die Tür auf, dann sind sie plötzlich blind. Jemand hat einen Feuerlöscher auf sie gerichtet, das weiße Pulver hüllt den engen Korridor in eine Wolke. Dann beginnt das Blitzlichtgewitter.
Hinter einer improvisierten Barrikade aus Tischen halten Dutzende Menschen ihre Kameras auf die Soldaten und drücken unaufhörlich ab – die weiße Wolke verstärkt den Effekt. Ohne direkte Sicht auf ihre Widersacher sind die Truppen zum Rückzug gezwungen.
Es sind Szenen wie diese, die sich am Mittwoch in den sozialen Medien verbreiteten und erst verdeutlichten, mit welchem Mut und welcher Kreativität das demokratische Südkorea in der Nacht zuvor nur haarscharf einen Militärputsch vereitelt hatte.
Yoon wollte den Vorsitzenden seiner eigenen Partei verhaften lassen
Anders lässt sich das Vorgehen des Präsidenten Yoon Suk-yeol nicht erklären, der am Dienstagabend um 22.30 Uhr Ortszeit völlig überraschend das Kriegsrecht ausgerufen hatte – um, wie er sagte, sein Land „vor den kommunistischen Truppen Nordkoreas“ zu schützen.
„Ich dachte zuerst wirklich, dass die Nordkoreaner angreifen“, schildert ein Südkoreaner dem KURIER. „Als ich verstand, worum es wirklich ging, war ich völlig perplex.“
Yoons Erklärung war ein Vorwand, um die demokratisch gewählte Opposition, die mit ihrer parlamentarischen Mehrheit seine Regierung blockiert hatte, gemeinsam mit allen anderen politischen Widersachern zu verhaften. Yoon soll sogar ein Spezialkommando der Militärpolizei darauf angesetzt haben, Han Dong-hoon festzunehmen, den Vorsitzenden seiner eigenen Partei.
Dass das nicht gelang, liegt an jenen Menschen, die noch in der Nacht alles riskierten, um Yoon aufzuhalten.
67-Jähriger Parlamentspräsident sprang über den Zaun
An Woo Won-sik etwa, dem oppositionellen Parlamentsvorsitzenden, der die Gefahr sofort erkannte und nach der Fernsehansprache des Präsidenten in nur zwölf Minuten zum Parlament raste. Er erreichte es noch vor der Armee und sprang kurzerhand über den Zaun – mit 67 Jahren.
Doch Woon war nicht alleine: Aus sechs Parteien schafften es insgesamt 190 der 300 südkoreanischen Abgeordneten rechtzeitig ins Parlament. Genug, um das Kriegsrecht in einer nächtlichen Abstimmung gegen 01.30 Uhr wieder aufzuheben.
Es lag aber auch an den Tausenden Zivilisten, die ihren Abgeordneten die nötige Zeit verschafften. Sie umstellten das Parlamentsgebäude, blockierten Militärfahrzeuge, bauten im Inneren Barrikaden aus Möbeln und hielten die Soldaten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln davon ab, weiter vorzurücken.
In dieser aufgeladenen Situation lag es aber auch daran, dass niemand der Beteiligten auf Gewalt zurückgriff. Ein Video zeigt, wie eine Frau die Waffe eines Soldaten packt - er befreit sich, stößt sie von sich, drückt aber nicht ab. Nur ein Funke hätte gereicht, um aus einer historischen Nacht eine tragische zu machen.
Das Ende ist bekannt: Yoon knickte unter dem Druck ein und hob das Kriegsrecht gegen 4.30 Uhr morgens nach nur sechs Stunden wieder auf. Auch seine politische Karriere ist damit beendet. Am Mittwoch traten der Justizminister und der gesamte Stab des Präsidenten zurück, auch der Rest des Kabinetts bot geschlossen seinen Rücktritt an.
Wie es jetzt weitergeht: Südkoreas Regierungspartei lehnt Amtsenthebung des Präsidenten ab
In einem zeremoniellen Akt brachten zuvor alle Oppositionsparteien gemeinsam Misstrauensanträge gegen Yoon und Verteidigungsminister Kim Yong-hyun ein, der den Plan, das Kriegsrecht auszurufen, vorgeschlagen haben soll.
Um den Präsidenten abzusetzen, bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit, also mindestens acht Stimmen aus Yoons eigener People's Power Party (PPP). Die regierende Volksmacht-Partei (PPP) will Yoon Suk Yeol aber im Amt halten, obwohl sie dessen Ausrufung des Kriegsrechts abgelehnt hat. Sie kündigte an, gegen das von der oppositionellen Demokratischen Partei eingebrachte Amtsenthebungsverfahrens zu stimmen, dessen Erfolgsaussichten damit gering sind.
Am Mittwoch forderten Tausende in Seoul Yoons sofortigen Rücktritt. Doch es gibt noch eine dritte Möglichkeit für ein jähes Ende seiner Präsidentschaft: Yoon hatte das Kriegsrecht im Alleingang ausgerufen, ohne vorhergehende Abstimmung seiner Minister. Das war verfassungswidrig – das Höchstgericht hat bereits Ermittlungen eingeleitet.
Mögliche außenpolitische Folgen
Als größter Gewinner der Entwicklungen gilt Oppositionsführer Lee Jae-Myung, Parteichef der Demokratischen Partei (DP). Er inszenierte sich am Mittwoch auf den Treppen des Parlamentsgebäudes als Gesicht des Widerstands – und dürfte für die Zukunft viele Stimmen gewonnen haben.
Ein Machtwechsel von Yoons PPP zur DP würde weitreichende außenpolitische Folgen mit sich bringen. Yoon war vor dem Putschversuch auch deshalb so unpopulär, weil er sich diplomatisch Japan angenähert, einen harten Kurs gegenüber Nordkorea gefahren und die Ukraine im Verteidigungskrieg gegen Russland finanziell unterstützt hatte.
Lee und seine DP stehen dagegen für einen gegensätzlichen Kurs: Unter ihnen könnte Südkorea wieder auf Distanz zum Nachbarn Japan gehen, den Austausch mit Nordkorea suchen, um Spannungen zu verringern und der Ukraine weitere Hilfen entsagen, um sie an den Verhandlungstisch zu drängen.
(kurier.at, jar)
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Aktualisiert am 04.12.2024, 19:30
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