George Mincy hatte schon Stunden vor Donald Trumps Auftritt in Valdosta ein mulmiges Gefühl. „Wenn er nur über sich spricht und das abgenutzte Lied von der gestohlenen Wahl singt, kann der Schuss nach hinten losgehen. Dann bleiben viele Wähler am 5. Jänner vielleicht zu Hause“, sagte Mincy am Samstag vor dem Rathaus von Valdosta, wo 1,80 Meter große Plastik-Nussknacker und ein Schlitten samt hölzerner Rentier-Herde unterm Christbaum Weihnachts-Feeling erzeugen sollen. Der Psychologie-Student der Universität von Georgia lag mit seiner Befürchtung nicht ganz falsch.
Einen Monat nach der verlorenen Präsidentschaftswahl und vier Wochen vor den für die Machtverteilung in Washington entscheidenden Stichwahlen zum Senat hat Trump bei seiner ersten Kundgebung das getan, was er am häufigsten macht: Beschwerden vorbringen. Und Unwahrheiten verbreiten.
Erste Kundgebung seit Debakel
Zu den Klängen von Phil Collins „In The Air Tonight“ landete er Samstagabend (Ortszeit) auf dem Regional-Flugplatz 400 Kilometer südlich von Atlanta, wo sich laut Sheriff-Büro rund 8.000 Anhänger versammelt hatten. Hunderte waren aus New York, Texas, Missouri und Florida in die Stadt gekommen, die nach dem italienischen Aostatal benannt ist. Nur wenige der Trump-Anhänger trugen Schutzmasken.
„Haben gewonnen“
Nach kurzer Vorstellung durch First Lady Melania Trump startete Trump: „Wir haben niemals eine Wahl verloren. Das Schöne ist, dass wir auch Georgia gewonnen haben.“ Er blendete aus, dass Gouverneur Brian Kemp, ein Republikaner, nach mehrfacher Auszählung der Stimmen in Georgia, Joe Biden zum Sieger ausgerufen hatte.
„Wenn ich verloren hätte, wäre ich ein sehr großzügiger Verlierer“, sagte Trump, „dann würde ich sagen, ich habe verloren, und nach Florida gehen und es ruhig angehen lassen.“ Ein Ergebnis, bei dem die Demokraten „stehlen und manipulieren und rauben“ könne er aber niemals akzeptieren. Hunderttausende Stimmen seien „aus Koffern“ gekommen oder von der „Decke gefallen“. Alles illegal. Darum müsse der Oberste Gerichtshof ran. Macht er aber nicht.
Trumps Anhänger skandierten „Wir lieben dich“, „Stoppt den Diebstahl“ oder „Vier weitere Jahre“. Chip Masterson, ein Armee-Veteran, reagierte begeistert: „Trump hat jedes Recht, diese Wahl durchleuchten zu lassen. Ich liebe diesen Mann. Bidens Sieg ist ein schlechter Scherz.“ Dass die Gerichte das anders sehen, erklärt der Rentner mit „Desinteresse an der Wahrheit“.
Republikanische Honoratioren in Georgia, wo seit 1992 kein Demokrat mehr die Präsidentschaftswahl gewonnen hat, verdrehten schon zur Halbzeit der 90-minütigen Rede die Augen. Sie hatten gehofft, dass Trump wenigstens ein Mal Schrittmacher-Dienste für andere leistet. Sprich: Leidenschaftlich für die bedrohten Senatoren Kelly Loeffler (50) und David Perdue (70) die Trommel schlägt. Auf dass die Republikaner im Senat in Washington in der Mehrheit bleiben. Und Joe Biden das Leben zur Qual machen können.
In Umfragen führen die demokratischen Herausforderer Jon Ossof, ehemaliger Journalist, und Raphael Warnock, schwarzer Pastor. Gewinnen sie, gibt es im US-Senat ein 50:50-Patt. Vizepräsidentin Kamala Harris würde dann bei jeder engen Entscheidung mit ihrem Extra-Stimmrecht demokratische Politik durchsetzen. Weil schon das Repräsentantenhaus in demokratischer Hand ist, drohte den Konservativen damit der Super-GAU.
Um das zu verhindern, sollte Trump seine Anhänger zur Wahl motivieren. Dafür, nur dafür, hatte man den Präsidenten zum Abstecher in den Süden bekniet. Aber wie will man Leute für eine Nebenwahl an die Wahlurne lotsen, wenn die Hauptwahl angeblich komplett getürkt war? Wie Vertrauen haben?
Kein Weihnachten mehr
Trump griff zum Vorschlaghammer: „Wenn ihr nicht wählt, werden die Sozialisten und Kommunisten gewinnen.“ Fällt den „radikal linken“ Demokraten die Macht in die Hände, sagte Trump mit apokalyptischen Untertönen, gebe es „kein Öl, keine Waffen, keinen Gott, keine Jobs, keine Grenzen, keine Freiheit und kein Weihnachten mehr“. Dass Biden ein Mann der Mitte ist, dass bei einem 50:50-Senat auf beiden Seiten eine Handvoll Abweichler ausreicht, um Gesetze zu kippen, blieb unerwähnt.
Alternder Rockstar
Auch Loeffler und Perdue, beide unter Verdacht, vor Ausbruch der Corona-Krise mittels Herrschaftswissen Börsengeschäfte abgewickelt zu haben, spielten nur Nebenrollen. Keine Minute dauerten ihre Ansprachen auf der Bühne. Was zählte, war allein Trump. Über dem 74-Jährigen lag die Stimmung des ausgebrannten Frontmanns einer Rockband, die ihr Abschiedskonzert gibt. Unfreiwillige Komik inklusive. „In den letzten drei Wochen habe ich härter gearbeitet als jemals zuvor in meinem Leben“, sagte Trump ohne Anflug von Ironie.
Dabei war er zuletzt fast nur beim Golfen zu sehen. Bleibt die Frage: Was hat der Präsident vor der Wahl vier Jahre lang gemacht?
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