Stocker in Montenegro: Chancen für EU-Beitritt bis 2028 nicht schlecht

Vor dem Parlament in Podgorica weht sie neben der montenegrinischen Staatsflagge bereits: die blaue EU-Fahne mit den goldenen Sternen. Sie zeigt, wohin der Weg des kleinsten Landes am Westbalkan gehen soll: Es möchte 28. Mitglied der Europäischen Union werden - und das möglichst rasch. Bis 2028 soll der Beitritt erfolgen.
Die EU-Erweiterung ist es auch, die Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) für drei Tage auf den Westbalkan führt. In der montenegrinischen Regierungsresidenz Villa Gorica traf er am Dienstag den Premierminister Milojko Spajić („Europa jetzt“). „Die Beziehungen zwischen Montenegro und Österreich sind außerordentlich gut“, betonte der Bundeskanzler bei einer gemeinsamen Pressekonferenz. Nicht nur im Tourismus, sondern auch in Wirtschaft, Sicherheit, im Kampf gegen illegale Migration - „und vor allem in der Unterstützung Montenegros auf dem Weg in die Europäische Union“.
Verhandlungen kommen voran
Seit 2012 verhandelt Montenegro in der Sache mit Brüssel. Während die Verhandlungen unter Langzeitherrscher Milo Đukanović kaum vorankamen, macht der im Jahr 2023 gewählte Premier Spajić Tempo: Alle 33 EU-Verhandlungskapitel sind geöffnet, sieben bereits vorläufig abgeschlossen – mehr als bei jedem anderen Kandidatenland. Im Juni 2024 bescheinigte die EU-Kommission Montenegro als einzigem Land der Region, die Hürde des IBAR, ein Zwischenbericht über die Rechtsstaatlichkeit, genommen zu haben.
„Erst im Juli wurden viele Gesetze verabschiedet, die uns der EU näherbringen“, sagte zudem Premier Spajić vor Journalisten. In großen Schritten soll es weitergehen: Noch in diesem Jahr will Montenegro fünf weitere Kapitel abschließen, bis Ende 2026 die Verhandlungen beenden. Damit gilt die kleinste ehemalige Jugoslawien-Teilrepublik als Spitzenreiter unter den EU-Anwärtern - und könnte dem ins Stocken geratenen Erweiterungsprozess auf dem Westbalkan neuen Schwung verleihen. So warten auch die Nachbarn Serbien, Albanien, Nordmazedonien, Bosnien und Herzegowina im EU-Vorzimmer. Für Montenegro sei es an der Zeit, "das Momentum zu nutzen", so Stocker.
Politische Instabilität
Jedoch, so betonen Experten, muss Montenegro noch so einiges dafür tun, etwa in den Bereichen Justiz, Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen ist nach wie vor gering. Zentrale Reformen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit - etwa bei der Polizei und anderen Sicherheitskräften - stehen nach wie vor aus, ebenso beim Umweltschutz, gesteht Spajić ein. Er verweist jedoch auf das starke Wirtschaftswachstum seines Landes. So habe Montenegro die höchsten Gehälter unter allen EU-Kandidatenstaaten. Und: "Zum Zeitpunkt des EU-Beitritts könnten wir sogar schon Nettozahler und nicht Nettoempfänger sein"
Ein Risikofaktor bleibt die politische Instabilität: Die Parteienlandschaft ist stark fragmentiert. Spajić regiert mit einem Bündnis aus elf ideologisch stark unterschiedlichen Parteien, darunter auch proserbischen Kräfte, die den EU-Beitritt skeptisch sehen. So ist etwa Parlamentspräsident Andrija Mandić eng mit dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić verbandelt. Auch die serbisch-orthodoxe Kirche mischt in dem Land kräftig mit. Dazu kommen regionale Konflikte, die den Beitrittsprozess belasten könnten, etwa Grenzstreitigkeiten mit Kroatien.
Montenegros Vorteil: Mit nur 600.000 Einwohnern und einer kleinen Volkswirtschaft wäre das Land für die EU wohl vergleichsweise leicht zu integrieren – ohne den Reformaufwand, den größere Kandidaten wie etwa die Ukraine erfordern. In Brüssel will man zudem dem wachsenden Einfluss Russlands und Chinas in der Region entgegentreten. So verläuft etwa eine von Peking finanzierte Autobahn quer durch Montenegro.
Hohe Zustimmungsraten
Die Bevölkerung steht jedenfalls klar hinter dem EU-Kurs: Rund 80 Prozent befürworten den Beitritt, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Außenpolitisch folgt das Land konsequent der EU-Linie – es unterstützt alle Sanktionen gegen Russland, anders als Serbien.
Wohl nicht unwesentlich: Das Land bezieht kein russisches Erdgas. 40 Prozent der Energie stammen ausKohlekraftwerken, 60 Prozent aus Wasserkraft. Die Sanktionen gegen Moskau spürt man allerdings im Tourismus, dem wichtigsten Wirtschaftszweig im Land.
Wirtschaftliche Zusammenarbeit ausbauen
Österreich ist laut der Zentralbank der achtgrößter Investor in Montenegro; 28 österreichische Unternehmen haben hier Niederlassungen. Künftig will man die wirtschaftliche Zusammenarbeit ausbauen, insbesondere bei geplanten Infrastrukturvorhaben im Umfang von zehn Milliarden Euro oder beim Ausbau der erneuerbaren Energie. Am Dienstag wurde ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet. „Wenn man so will, sind Österreich und Montenegro heute noch ein Stück näher zusammengerückt", sagt Stocker.
Österreich hat Montenegro zudem Hilfe bei den derzeit wütenden Waldbränden im Land angeboten. Spajić nannte das Abkommen den „Beginn einer Vertiefung der schon jetzt sehr guten Zusammenarbeit“. Montenegro könne ein verlässlicher Partner für die EU und für Österreich sein – und Vorbild für andere Beitrittskandidaten, auch für Serbien. "Wir sehen, dass die europäische Solidarität funktioniert."
Bereits im Mai war Stocker als Kanzler am Westbalkan, damals beim Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Tirana. Nach Montenegro reiste er weiter nach Belgrad, wo er am Mittwoch Präsident Vučić treffen wird.
Kommentare