Stacheldraht und gegenseitige Grenzblockaden vergiften EU

Ungarische Soldaten an der Grenze zu Slowenien entfernen den Stacheldraht wieder.
EU-Kommissar Hahn besuchte ein Flüchtlingslager in Serbien. Er schlichtete im Grenzstreit

Ich mache mir große Sorgen" – das ist die erste spontane Reaktion von Johannes Hahn nach dem Besuch eines Flüchtlingserstaufnahmezentrums im serbischen Grenzort Šid. "Es gibt immer mehr minderjährigen Flüchtlinge, innerhalb kürzester Zeit ist hier die Zahl unbegleiteter Mädchen von 50 auf 500 angestiegen", erzählt Hahn in einem Telefongespräch mit dem KURIER. 130.000 Flüchtlinge haben sich in den vergangenen Wochen durch Serbien Richtung Mitteleuropa bewegt, davon 5000 junge Menschen.

Lob für Belgrad

In einem ehemaligen Kindersanatorium in Šid leben derzeit einige Hundert Flüchtlinge und "Serbien bemüht sich sehr, alle gut zu betreuen", lobt der für Erweiterung zuständige Kommissar. Ministerpräsident Aleksandar Vučić, der ihn begleitet, hört das natürlich gern.

Das Lager ist aber nur eine Zwischenstation für die mehrheitlich aus Syrien kommenden Flüchtlinge, denn "alle wollen sofort weiterziehen", ist der Eindruck, den Hahn hier gewinnt. "Ich habe mit vielen Familien aus Aleppo gesprochen, aber auch alleinstehende Männer gesehen."

Registriert werden in Šid alle ankommenden Flüchtlinge. NGO-Vertreter, mit denen Hahn lange gesprochen hat, beklagten aber die zeit- und ressourcenaufwendige Arbeit. "Hier müssen die Hotspots in Griechenland ihre Aufgabe erfüllen", kritisiert der Kommissar Hellas, das bisher die meisten Asylwerber lässig durchwinkt.

Absolut kein Verständnis hat er für das Verhalten Kroatiens und die gegenseitigen Grenzblockaden in der akuten Flüchtlingskrise (siehe dazu auch Artikel unten). "Das ist kontraproduktiv und beeinflusst die wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen am ganzen Balkan."

"Rhetorisch hat sich die Sache gefährlich hochgeschaukelt", findet der Brüsseler Politiker. Der Flüchtlingsstrom entwickelt sich immer mehr zu einem gefährlichen Sprengstoff zwischen den ehemals verfeindeten Serben und Kroaten.

Zwei Grenzpunkte offen

Jetzt, wo der Streit zwischen dem EU-Mitglied und dem Beitrittskandidaten auf dem tiefsten Punkt seit dem Abgang von Slobodan Milosević im Jahr 2000 abgesackt ist, ist Vermittlung der EU dringend nötig. Kommissar Hahn tut dies aufseiten der serbischen Regierung, die Hohe Beauftragte für die Außenpolitik, Federica Mogherini, knöpfte sich Kroatiens Ministerpräsidenten Zoran Milanović vor.

Mit Erfolg: Kroatien hat auf den Druck der EU reagiert und seine geschlossenen Grenzübergänge zu Serbien wieder geöffnet. Das berichtete das Staatsfernsehen HRT am Freitag in Zagreb unter Berufung auf die Polizei. Spät in der Nacht auf Samstag öffnete auch Serbien seine Grenzübergänge. Diese Maßnahmen werden der Vermittlungsmission von Hahn zugute geschrieben.

August 2015: Auf den Fähren, die von Split zu den vorgelagerten dalmatinischen Inseln ablegen, parken sich zum ersten Mal seit Jahren wieder mehrere Autos mit serbischem Kennzeichen ein. Die Beziehung zwischen den beiden Ländern war schon einmal schlechter. Die im Krieg verfeindeten Nachbarn aus Serbien folgen nicht zuletzt der Werbung der kroatischen Tourismuszentrale, einige auch Einladungen von Freunden und Verwandten.

September 2015: „Kroatische Faschisten!“, tönen rechtsgerichtete Belgrader Regierungspolitiker in Richtung Kroatien. „Serbische Revanchisten!“, halten Regierung und Opposition in Zagreb postwendend dagegen. Ende des Jahres stehen in Kroatien Parlamentswahlen an, und die nationale Karte sticht weiterhin, da wie dort.

Anstatt eigene Versäumnisse und vor allem Hilflosigkeit im Umgang mit dem Flüchtlingsstrom zuzugeben, wird mit dem Finger auf andere gezeigt. Allzu schnell sind auf beiden Seiten der Grenze alte Wunden und Ressentiments aufgebrochen. Die zaghafte Annäherung der letzten Monate gerät dadurch erneut ins Stocken.

Belege für die Annäherung gab es einige: Dass es zuletzt auf der Autobahn von Zagreb nach Belgrad zu kilometerlangen Lkw-Staus kam, zeigt abseits der politischen Sticheleien auch, dass die Republiken aus dem ehemaligen Jugoslawien wirtschaftlich wieder zusammenfinden. Dabei werden nicht nur Lebensmittel exportiert. Ein Zagreber Verleger erzählt: „Für uns alle ist im Krieg ein großer Markt zusammengebrochen. Da ist es normal, dass wir die alten Beziehungen wieder aufleben lassen.“

Eiszeit im Fußball

Erste Begegnungen mit den Kriegsgegnern von gestern gab es auch bei Sportwettkämpfen und Kultur-Events. Nur im Fußball herrscht weiterhin Eiszeit. Treffen die nationalen Auswahlen der Länder aufeinander (zuletzt im Frühjahr 2013 in Zagreb), vereinbaren die Verbände, Fans des Gästeteams nicht ins Stadion zu lassen.

Ein Auto mit Belgrader Kennzeichen in den Straßen der kroatischen Hauptstadt Zagreb ist auch zwanzig Jahre nach Ende des Bruderkriegs eine Ausnahme. Weniger Berührungsängste haben die Jungen, vor allem jene, die nach Kriegsende (1991 bis 1995) geboren wurden.

„Mir persönlich haben die Serben nichts getan“, gibt ein Student in Zagreb die Stimmung seiner Generation wieder. „Ich mag ihre Musik“, verrät sein jüngerer Bruder. Zum Leidwesen seiner Eltern hören beide den auch in Wien nicht unbekannten Turbofolk. Es ist ihnen egal, woher Sänger und Texte kommen.

Die jüngsten Verbalattacken gehen aber auch an den beiden Brüdern nicht spurlos vorbei.

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