Seit Russland vor knapp drei Jahren seine Panzer in die Ukraine rollen ließ, zerbrechen sich Politiker und Experten den Kopf: Wie kann man den Mann, der den Befehl zu dieser Aggression gab, der Zehntausende Tote auf dem Gewissen hat, dafür bestrafen?
Europa hat nun die Basis für die juristische Aufarbeitung der Gräueltaten gelegt. EU, Europarat, die Ukraine und 37 weitere Staaten heben ein Sondertribunal aus der Taufe, vor dem die russische Führungsebene angeklagt wird – wegen des Verbrechens der Aggression.
Bisher unmöglich
Einschneidend ist das, weil eine derartige Anklage bisher unmöglich war. Eigentlich müsste der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Verbrechen dieser Dimension verhandeln; er hat Putin und seine Kinderrechtsbeauftragte Marija Lwowa-Belowa auch zur Fahndung ausgeschrieben, jedoch nur wegen des Vorwurfs der Deportation ukrainischer Kinder. Der politisch schwerwiegendste Tatbestand dieses Krieges, das Verbrechen der Aggression, kann vor dem IStGH nicht verhandelt werden: Das wäre nur mit dem Sanktus des UN-Sicherheitsrats möglich, und da würde Russland per Vetorecht Nein sagen.
"Nürnberg II"
Das Sondertribunal ist die elegante Lösung, um Putin auch generell für seinen mörderischen Angriffskrieg zu belangen. Es basiert zwar nicht auf dem Mandat der UNO, was völkerrechtlich solider wäre, aber auf einer großen Koalition der Willigen: Mehr als 40 Staaten haben sich an den Vorbereitungen beteiligt, darunter auch die USA, Großbritannien oder Japan. Dass die Vereinigten Staaten mit an Bord sind, gilt als essenziell: Sie waren lange zögerlich, aus Furcht, das Tribunal könnte ein Türöffner für die Verfolgung von Kriegsverbrechen von US-Soldaten im Irak sein. Mit der jetzigen Konstruktion – die Ukraine schließt einen bilateralen Vertrag mit dem Europarat, die Richter werden international besetzt – wird das verunmöglicht.
Auch Österreich hat das Tribunal führend mitgestaltet. Zwei Treffen der „Core Group“ fanden im Herbst in Wien statt, hier wurde das Fundament zur Einigung gelegt. Angeklagt wird vor dem Tribunal, das in Den Haag nahe des IStGH eingerichtet wird, der Straftatbestand der Aggression – so wie bei den Nürnberger Prozessen gegen führende Vertreter des NS-Regimes in den 1940ern. Manche Experten sprechen darum auch von einem „Nürnberg II“, das da in Planung ist.
Prozess in Abwesenheit
Doch auch wenn EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas sagte, dies sei „ein Signal an die Welt, dass niemand aus der russischen Führung unantastbar ist“: Ob Wladimir Putin tatsächlich auf der Anklagebank Platz nehmen wird, ist noch lange nicht klar.
Zwar wird das Sondergericht neben ihm etwa weitere 20 Personen anklagen, darunter wohl Ex-Verteidigungsminister Sergej Schoigu, dessen Nachfolger Andrej Beloussow oder Generalstabschef Walerij Gerassimow. Doch Haftbefehl wird das Tribunal so bald keinen erlassen – das ist juristisch nämlich nur möglich, wenn Putin nicht mehr im Amt ist, sagen Experten.
Manch Beobachter fragt sich darum, ob die Errichtung des Tribunals nur ein Signal ist. Wie lange sich der autoritär regierende Putin im Amt hält, kann schließlich niemand genau sagen, heuer jährt sich seine Machtübernahme ja schon zum 25. Mal.
Auslieferung wie Milošević?
Völkerrechtler halten hier dagegen, dass auch das Signal allein nicht zu unterschätzen ist – immerhin ist es das erste Mal, dass die Führungsriege einer Atom- und Vetomacht vor Gericht gestellt werden soll. Echte Schritte könnten zudem in diversen Vorverfahren gesetzt werden, und denkbar wäre auch ein Verfahren im Abwesenheit. Italien etwa praktiziert das schon lange; in den 1960ern wurden etwa die österreichischen Südtirol-Attentäter – die „Bumser“ – in Abwesenheit zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt.
Denkbar wäre aber auch eine Auslieferung Putins und seiner Getreuen durch seine Nachfolger. Das hat auch bei Jugoslawiens Ex-Präsident Slobodan Milošević geklappt: Er wurde 2001 nach Den Haag überstellt – zwei Jahre nach Ende der Balkankriege.
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