Leben als Bürgermeister im Kriegsgebiet: "Sie töten so viele Ukrainer wie möglich"
Seine Stimme wirkt ruhig, seine Antworten klingen überlegt, seine Grundhaltung ist optimistisch. Wenn Bürgermeister Alexander Senkevich mit dem KURIER über die Situation in seiner Stadt, Mykolajiw, spricht, vermittelt er den Eindruck, alles im Griff zu haben – auch unter täglichem Beschuss und willkürlicher Zerstörung durch die russische Armee.
KURIER: Wie ist der Alltag unter ständigem Beschuss?
Alexander Senkevich: 15 Raketen sind etwa an diesem Donnerstag in der Stadt eingeschlagen. Eine ist auf einem Autobusparkplatz gelandet und hat die Scheiben der Busse zertrümmert, eine direkt vor dem Stadion, eine andere in einem Schulhof. Zum Glück habe ich schon vor Wochen alle Schulen geschlossen und den Unterricht auf online umgestellt. Schule, das ist längst viel zu gefährlich für die Kinder. Mehr als die Hälfte der 500.000 Einwohner von Nikolaev sind inzwischen geflohen. Vor allem die Familien mit kleinen Kindern haben wir aus der Stadt gebracht.
Womit schießen die Russen? Sie feuern Raketen und Marschflugkörper von der nahe gelegenen Halbinsel Krim oder von der Stadt Cherson aus. Es schlagen aber auch schwere Schiffsraketen, Luftabwehr-Geschoße und illegale Streubomben bei uns ein. Sie feuern mit allem, was sie haben, und ihr Ziel ist, möglichst viele Ukrainer zu töten und möglichst viel Infrastruktur zu zerstören.
Aber trotzdem funktioniert das meiste in der Stadt? Wir sind einfach wie die Ameisen. Wenn etwas getroffen wird, fangen wir im Eiltempo zu reparieren an. Vor ein paar Wochen haben die Russen unsere zentrale Wasserpipeline zerstört. Wir haben eine neue gebaut und zapfen jetzt näher gelegene Vorkommen an. Die haben allerdings das Problem, dass das Wasser sehr salzig ist und daher die Leitungen beschädigt werden. Wie lang die halten werden, kann ich jetzt nicht sagen, aber ich bin froh, dass wir das geschafft haben. Die Menschen haben so wenigstens Wasser, mit dem sie Wäsche waschen, sich duschen und das Klo benutzen können. Trinkwasser müssen wir weiterhin in Flaschen liefern. Wir brauchen also dringend Wasseraufbereitungsanlagen. Gott sei Dank sind ein paar davon schon aus Kiew geliefert worden.
Die Russen erzählen, sie würden nur militärische Einrichtungen beschießen. Ich weiß, sie erzählen dann in sozialen Medien wie Telegram, dass hier ein Munitionsdepot verborgen sei und dort Artillerie. Sie sollen sich bitte die Videos aus Mykolajiw anschauen. Nirgendwo explodiert irgendeine Munition, das würde man ja sehen. Wären die Schulen, wie sie behaupten, militärisch wichtige Anlagen, dann würden doch sofort Feuerwehr und Rettungsmannschaften eintreffen. Aber niemand kommt, stattdessen sieht man nur, wie eine Rakete eine leere Schule in Schutt und Asche gelegt hat.
Was macht Ihnen am meisten Sorgen? In vielen unserer Wohnanlagen sind durch das Bombardement sämtliche Fensterscheiben zerstört – und in ein paar Monaten beginnt bei uns wieder die Heizsaison. Gas haben wir vorerst, die Leitungen sind geflickt, aber wie wir alle diese Reparaturen schaffen sollen, weiß ich ehrlich nicht.
Was aber, wenn die Russen eine Bodenoffensive starten? Wir bereiten uns seit Monaten darauf vor. In der ganzen Stadt sind Verteidigungsanlagen errichtet, Schützengräben ausgehoben. Ich bin kein Militär, ich kann daher keine Details verraten. Nur so viel, wir sind bereit, uns zu verteidigen. Außerdem sind die Russen hier im Süden des Landes momentan auf der Verliererstraße. Sie stecken fest – darum schießen sie ja ständig sinnlos mit Raketen auf uns.
Merken Sie etwas von den neuen Waffen, die aus dem Westen kommen? Auch da kann ich natürlich keine militärischen Geheimnisse verraten. Nur so viel: Unsere Truppen hier haben große Mengen Ausrüstung aus Kiew bekommen, Helme, Munition ... auch Verstärkungen sind eingetroffen. Und ja, es gibt neue weitreichende Artillerie aus dem Westen, und die hat auch an manchen Orten hier im Süden schon ihre Wirkung gezeigt.
In Nikolaev sprechen viele Menschen Russisch. Wie denken die heute über Russland? Diese Menschen haben eigentlich auch vor dem Krieg keine Sympathien für das heutige Russland gehabt, sondern vielmehr für die Sowjetunion. Zu Zeiten der UdSSR waren wir ein Zentrum des Schiffsbaus . Dann zerfiel das Land und die russischen Eigentümer, die diese staatlichen Werften übernahmen, haben sie in den Bankrott getrieben. Das ist bis heute ein wirtschaftliches Problem für uns. Die Menschen also haben nostalgische Gefühle für die UdSSR, denn damals hatten sie sichere Jobs und Sozialleistungen. Jetzt sehen sie keine Zukunft. Putin hat ja geschickt diese Sowjetnostalgie auf sein Russland umgemünzt, mit der alten Hymne und der Flagge. Jetzt aber, wo es Raketen auf uns hagelt, ist den meisten Menschen klar geworden, Putins Russland ist nicht die Sowjetunion – und es ist auch nicht der nette große Bruder.
Was ist Ihre langfristige Hoffnung in diesem Krieg?
Irgendwann werden die internationalen Sanktionen auch in Russland wirklich zu wirken beginnen. Dann werden auch die Russen verstehen, dass dieser Krieg nicht nur uns Ukrainer trifft und den Westen, was ihnen Putins Propaganda erzählt, sondern auch sie ganz persönlich. Außerdem kommt mit jedem Leichensack mit einem russischen Soldaten, der aus der Ukraine zurückgeschickt wird, auch eine Botschaft mit: Dass hier nicht Russland gegen irgendjemanden verteidigt wird, sondern dass Russland ein fremdes Land überfallen hat – und dass jetzt die Russen den Preis für diesen Überfall zahlen müssen.
Sie wirken ruhig, gefasst, optimistisch. Wie machen Sie das?
Wir haben schlicht keine andere Chance, als darauf zu setzen, dass es besser wird und wir diesen Krieg gewinnen. Das ist auch das, was die Menschen zu Recht von uns Politikern erwarten: Dass wir ihnen Hoffnung geben. Klar ist das Leben derzeit nicht einfach, aber wir lernen, Tag für Tag mit den Problemen umzugehen – und wir haben eine langfristige Perspektive, einen Plan für unsere Stadt und unser Land.
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