Chinas System auf dem Prüfstand
Doch China stehe vor innenpolitischen Herausforderungen: „Es geht um den Kernpunkt des chinesischen Systems, nämlich den sogenannten Gesellschaftsvertrag. Die politische Führung hat bescheidenen Wohlstand versprochen, dafür soll sich die Gesellschaft von der Politik fernhalten.“ Die Pandemie habe gezeigt, dass dies nicht immer funktioniere. „Jetzt erleben wir die Kehrtwende in dieser Null-Covid-Politik, wo keiner weiß, was dabei herauskommt. “
„Eine Schwächung des Systems ist damit verbunden“, analysiert Feichtinger. Er kann sich vorstellen, dass all dies zu Zweifeln führt und Zweifel schürt. Auch auf wirtschaftlicher Seite: „Man hat lange Zeit gesagt, China braucht ungefähr ein Wirtschaftswachstum von sieben Prozent, um den bisherigen Weg weiterzugehen. Und jetzt reden wir von zwei bis drei.“ Außenpolitisch stellt sich für Feichtinger die Frage, ob Peking von „Soft Power“ auf „Hard Power“ umschwenken will – Taiwan sei hier ein Prüfstein, die Ukraine eine Abschreckung. Für ihn steht jedenfalls fest: „Das Bild der Überlegenheit, das man in den vergangenen Jahren von China hatte, ist definitiv ins Wanken geraten.“
„Starkes Lebenszeichen der USA“
Ein anderes, gängiges Narrativ aus der Perspektive Moskaus und Pekings: „Der Westen ist dem Untergang geweiht, die Zeit der autoritären Systeme ist gekommen.“ Feichtinger hält diese These für gewagt: „Die USA haben den innenpolitischen Test bestanden, haben die Erstürmung des Kapitols aufgearbeitet und auch die Midterm Elections sind gut über die Bühne gegangen. Das ist ein starkes Lebenszeichen der Demokratie“, sagt er.
Mit der Unterstützung der Ukraine habe man gezeigt, dass weder NATO noch Kiew fallengelassen werden. Wären die USA auch im Stande, Taiwan zu verteidigen? Feichtinger: „Militärisch muss eine Supermacht einen großen und zwei kleinere Konflikte bewältigen können. Die Ukraine ist für die USA keinesfalls ein großer Konflikt, Taiwan hat das Potenzial, zu einem großen zu werden. Das müssten die USA von ihrem strategischen Kalkül her bewältigen können.“
Sorge vor der schiitischen Atombombe
Anders die Situation im Nahen Osten: „Der Libanon kommt noch immer nicht zur Ruhe. Der Krieg in Syrien ist zwar entschieden, aber nicht beendet, und der iranische Einfluss ist ungebrochen. Diese verstärkte Achse, die sich jetzt mit Russland anbahnt, sorgt natürlich für zusätzliche Spannungen und Verunsicherung in der Region“, analysiert Feichtinger.
Sollte es der Iran schaffen, zu einer Atombombe zu kommen, „dürften Staaten wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate oder auch Katar nachziehen“, befürchtet er. „Noch dazugekommen ist jetzt natürlich die neue Regierung in Israel, damit sind Unruhen mit den Palästinensern vorprogrammiert.“ Dass diese Regierung vorhat, stärker mit Russland zu kooperieren, liegt für Feichtinger daran, dass man in Syrien – wo Russland der stärkste Akteur ist – neue Pflöcke einschlagen, den Iran von der Grenze fernhalten will.
Russland katapultiert sich ins Abseits
„Dafür gibt es einige Gründe – der offensichtlichste ist der Ukraine-Krieg. Hier gibt es kein klares Ziel. 20 Prozent des ukrainischen Territoriums zu erobern und dann mühsam zu verteidigen, kann nicht das Ziel eines globalen Akteurs – als der sich Russland sieht– sein“, sagt Feichtinger. Ebenso könne es nicht die Absicht sein, infolge der Sanktionen immer mehr in die Hände Chinas getrieben zu werden. Mittlerweile sollen weit mehr als 75.000 IT-Experten das Land verlassen haben.
Feichtinger: „Das heißt, die Wirtschaft wird entwicklungstechnisch um 20 bis 30 Jahre zurückgeworfen. Alle Vorzeichen schauen eigentlich negativ aus für ein Ziel, das nicht mehr klar erkennbar ist. Und deswegen ist es für mich so, dass Russland strategisch in eine Sackgasse fährt.“ Putin sitze derzeit fest im Sattel, „aber wir wissen auch aus den vergangenen 30 Jahren, dass sich in Russland sehr schnell etwas verändern kann“.
Auch Europa zahle einen hohen Preis, dennoch sei Russland der klare Verlierer. „Was ich insgesamt bedaure – gerade im Verhältnis der beiden. Wir sind Nachbarn und wir bleiben Nachbarn. Dafür sorgt die Geografie. Und wenn man eine Konstellation hätte, wo die eine Seite liefert (Russland etwa Gas, Anm.) und die andere abnimmt, wäre das eine ideale Synergie. Die derzeitige Situation ist strategisch irrational“, analysiert Feichtinger. „Und es geht ja noch einen Schritt weiter: In der kommenden Weltordnung sehe ich zwei Supermächte und eine dritte, die gerade entsteht. Damit meine ich nicht etwa Russland, sondern Indien.“
Russland und Europa wären zwei Akteure, „die das Potenzial haben, im neuen Gleichgewicht der Mächte das Zünglein an der Waage bilden zu können“.
Europa stärker als erwartet
Die Prognosen waren negativ, Warnungen vor Massenprotesten und Ausschreitungen gab es zuhauf. „Aber unterm Strich hat die EU die Situation sehr gut durchgestanden“, sagt Feichtinger. „Wir haben ja auch die Pandemie eigentlich sehr gut bewältigt. Alle Wirtschaftsprognosen wurden auf positive Weise übertroffen, und die Aussichten sind nicht so schlecht.“ Man habe erkannt, dass man gemeinsam agieren muss. Nun gelte es, Versorgungsabhängigkeiten zu minimieren, Produktionen wieder zurückzuholen.
„Diese Dynamik ist für mich als überzeugten Europäer eine sehr positive. Es geht darum, dass wir geopolitisch bestmöglich bestehen, dass wir unseren Status quo, unseren Lebensstandard halten können. Auch sicherheitspolitisch gehe vieles in die richtige Richtung: „Es ist völlig sekundär, ob das jetzt im Rahmen der NATO erfolgt oder im Rahmen der EU. Wir sitzen sowieso in einem Boot, und wenn wir uns auf eine gemeinsame EU–Beschaffungspolitik einigen können, eine vernünftige Streitkräfteplanung, dann können wir mit weniger Aufwand wesentlich mehr erreichen. “
Das trage massiv zur Resilienz Europas bei – ebenso wie die Suche nach neuen, ökologischen Konzepten: „Das ist unsere große Chance für die Zukunft, dass wir hier zum globalen Vorreiter werden. Wenn wir das gezielt angehen, kann das von großem Nutzen sein.“
Kommentare