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Ungefähr 300.000 Serben protestierten in Belgrad gegen Korruption. Sie fordern Gerechtigkeit für den Einsturz eines Bahnhofsvordachs, u. a.
Vučićs Unterstützung schwindet, Medienkontrolle und politische Allianzen könnten ihm entgleiten, sagt ein Experte.
Die EU hat sich bisher nur sehr zurückhaltend geäußert, obwohl Korruptionsbekämpfung für Serbiens EU-Beitritt ein entscheidender Punkt ist.
Sie haben es wieder getan. Und sie waren mehr als je zuvor. Hunderttausende Serben strömten vergangenes Wochenende auf die Straßen Belgrads. Das Stadtzentrum war über Stunden voll mit Menschen. Es waren die größten regierungskritischen Proteste, die das Land je erlebt hat.
Seit vier Monaten nun gedenken sie jener 15 Menschen, die im November beim Einsturz eines Bahnhofsvordachs in der Stadt Novi Sad ums Leben gekommen sind. Sie fordern Gerechtigkeit für diese Toten, eine Aufklärung über die Hintergründe der folgenreichen und sehr wahrscheinlich korrupten Bahnhofsrenovierung, dass die staatlichen Institutionen ihre Arbeit machen. Vorgänge, die nach über einem Jahrzehnt an autoritärer Politik des nationalistischen Machthabers Aleksandar Vučić alles andere als die Norm sind.
Belgrad könne manchmal ruppig sein, sagt Südosteuropa-Experte Florian Bieber von der Universität Graz, der vor Ort war. Bei der jüngsten Massendemonstration jedoch sei die Stimmung auffallend ausgelassen, friedlich, solidarisch gewesen.
Das ist auch insofern beachtlich, wenn man bedenkt, dass die Proteste zwar nach wie vor von Studierenden angeführt werden, jedoch mittlerweile Menschen aus verschiedensten Bevölkerungsgruppen und mit verschiedensten Einstellungen umfassen. Etwa Kreml-Kritiker genauso wie Putin-Fans. Was sie eint, ist die Meinung, dass es nicht mehr so weitergehen kann wie bisher.
Vučić verliert an Rückhalt
Die enorme Größe der Bewegung, von ungefähr 300.000 Teilnehmern am Samstag ist die Rede, spiegelt sich auch in den Umfragen wider: „Etwa 60 Prozent in der Bevölkerung unterstützen die Proteste. Und: Es gibt im Moment erstmals mehr Unterstützung für die Opposition als für die Regierungspartei und ihre Verbündeten. Vučić sieht das. Und die Verbündeten auch“, sagt der Politologe.
Vučićs Machtpyramide wackle. Seine eigene Partei, die Serbische Fortschrittspartei SNS, stehe zwar voll hinter ihm, weil sie wisse, dass sie ohne ihn nichts sei. Andere Parteien, die Sozialisten etwa, die seit Beginn der Vučić-Ära ein wichtiger Partner für die SNS sind, könnten aber abspringen.
Auch das für Vučić seit jeher wichtige Machtinstrument der Medienkontrolle könnte ihm nach und nach entgleiten. „Das Staatsfernsehen hat in den vergangenen Wochen ab und zu sogar korrekt über die Proteste berichtet. Offenbar gibt es Journalisten, die hier versuchen, sich durchzusetzen. Auch bei anderen Medien könnte sich da was tun."
Womöglich schwenken demnach also einige Akteure um, wenn sie das Gefühl haben, dass die Macht des Regimes schwindet. "So weit ist es jetzt aber noch nicht."
Schallwaffen-Einsatz wahrscheinlich
Noch harrt Vučić aus, greift die Protestierenden verbal sowie mit Schlägertrupps an – und am Wochenende womöglich auch mit einer noch nie zuvor eingesetzten und eigentlich verbotenen Waffe: einer Schallkanone. Videos zeigen, wie eine Menschenmenge durch etwas Unsichtbares geteilt wird. Teilnehmer berichteten später von einem lauten Geräusch und einer starken Druckwelle, Dutzende mussten Berichten zufolge ins Krankenhaus.
Vučić dementiert den Einsatz der Waffe vehement. Bieber hält einen solchen für wahrscheinlich. Vermutlich habe es sich um einen weiteren – radikalen und gefährlichen – Versuch gehandelt, die Proteste zu entkräften: „Wenn einige Menschen durch eine Panik verletzt oder gar zu Tode gekommen wären, wäre das eine starke Entmutigung für zukünftige Demonstrationen gewesen.“
Schon in den Tagen zuvor habe die Regierung Unruhen hervorrufen wollen. „Sie sprach von Plänen eines gewaltsamen Umsturzes, stellte ein vermeintliches Pro-Vučić-Studentencamp vor dem Parlament auf. Es ging darum, Auseinandersetzungen zu provozieren, sodass die Polizei eingreifen hätte können.“ Dass es nicht dazu kam, sei auch an der guten Vorbereitung der Protestierenden gelegen sowie ihren Sicherheitskräften, die bei kleineren Vorfällen schnell eingegriffen hätten.
Die EU hält sich raus
Am Samstag habe sich gezeigt: "Die Massenproteste allein werden das Regime nicht in die Knie zwingen. Wenn 300.000 Menschen nicht ausreichen, werden 400.000 es auch nicht tun." Jetzt stelle sich die Frage: Mit welchen Strategien könnten die Protestierenden Institutionen dazu bringen, Farbe zu bekennen, und sie zum Handeln bewegen? So wie Medien bereits blockiert werden, könne das auch bei Ministerien, dem Parlament oder der Staatsanwaltschaft funktionieren.
Auch die in den letzten Monaten zu diesem Thema eher leise EU solle mehr Stellung beziehen, fordern einige. Gerade weil Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung ja auch Voraussetzungen für den – zumindest offiziell nach wie vor angestrebten – Beitritt Serbiens sind.
Das Schweigen Brüssels sei bezeichnend, sagt Bieber. EU-Politiker hätten sich klarer öffentlich äußern, das Thema bei Besuchen in Belgrad ansprechen können. Auch das Instrument einer EU-Rechtsstaatlichkeitsmission könne man ohne weiteres einsetzen. Warum das alles bisher nicht passiert ist?
„Man würde sich den Zorn Vučićs auf sich ziehen.“ Einerseits bestehe die Sorge, dass der für seinen Schlingerkurs zwischen China, Russland und dem Westen bekannte Präsident sich zunehmend von der EU abwendet.
„Und andererseits sind da die sehr deutlichen wirtschaftlichen Interessen von EU-Staaten: Paris verkauft Kampfflugzeuge mit milliardenschweren Verträgen an Belgrad, Berlin hat einen Deal über den Abbau von Lithium im Land geschlossen.“
Viele Serben hätten das Gefühl, dass Vučić die EU auf seiner Seite habe. Auf den Protesten seien alle möglichen Flaggen zu sehen, europäische jedoch kaum.
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