Serbien: Könnten die Proteste Machthaber Vučić stürzen?

„Viele Serben hatten das Gefühl, dass sie nicht mitreden und nichts verändern können. Sie haben den Kopf eingezogen, gearbeitet und sich nicht beschwert. Ich glaube, wir haben sie wachgerüttelt“, erzählt der 20-jährige Jus-Student Boris Stanišić aus Belgrad euphorisch. Er ist Teil der massiven Protestwelle, die das Balkanland aktuell in Atem hält.
Genau drei Monate ist es am Samstag her, dass in der zweitgrößten Stadt des Landes, Novi Sad, ein Bahnhofsvordach einstürzte und 15 Menschen erschlug. Zuvor hatten Politiker der in Serbien allmächtigen nationalistisch-populistischen Fortschrittspartei (SNS) von Präsident Aleksandar Vučić den Bahnhof mehrmals feierlich neu eröffnet.
Schnell war klar: Bei den Bauarbeiten ist nicht alles mit rechten Dingen zugegangen, vieles deutet auf Pfusch hin. Das Dach wurde laut Ingenieuren zu schwer gebaut, das Firmengeflecht und die Gelder dahinter sind undurchsichtig. Eine unabhängige Untersuchung fehlt aber. Genau die fordern die Demonstranten ein.

Die blutrote Hand ist zum Symbol der Proteste geworden.
15 Minuten für 15 Tote
Gemeinsam schweigen sie täglich um 11:52, dem Zeitpunkt des Dacheinsturzes, 15 Minuten für die 15 Toten. Ihre Hauptforderung: Aufklärung darüber, was in Novi Sad passiert ist, und dass die Schuldigen Verantwortung übernehmen. Konkret verlangen sie, dass relevante Dokumente in Zusammenhang mit der Bahnhofsrenovierung veröffentlicht werden.
Mittlerweile hat die Bewegung sich auf breite Schichten der Bevölkerung und zahlreiche Städte, auch kleinere, im ganzen Land ausgeweitet. Professoren, Lehrer, Anwälte, Unternehmer, Bauern marschieren nun mit den Studierenden, besetzen Fakultäten, legen ihre Arbeit nieder und blockieren Verkehrsknotenpunkte. Es gehe ihnen nicht nur um Gerechtigkeit für die Opfer von Novi Sad, sagt die 22-jährige Schauspielstudentin Vanja Šević, eine Sprecherin der Bewegung: „Wir wollen einen funktionierenden Rechtsstaat, in dem man bestraft wird, wenn man etwas falsch macht. Wir wollen nicht-korrupte Institutionen, die ihre Arbeit machen.“
Demonstrationen gab es in Serbien in den letzten Jahren einige. 2023 gingen nach Amokläufen in Schulen zahlreiche Menschen gegen Gewalt und lasche Waffengesetze auf die Straße. Ebenfalls massiv für Unmut sorgte aufgrund von Umweltbedenken ein Deal zwischen Serbien und der EU über den Abbau des begehrten Rohstoffes Lithium im westserbischen Jadar-Tal.
Aleksandar Vučić war einst Informationsminister unter Slobodan Milošević, bevor dieser gestürzt wurde. Seit 2012 ist er die dominierende Figur in der serbischen Politik. Die meisten Medien stehen unter seiner Kontrolle. Bei Wahlen kam es unter ihm stets zu Beeinflussung und Unregelmäßigkeiten.
Die Proteste setzen Präsident Vučić zunehmend unter Druck. Bereits drei Minister, einer davon Premier Miloš Vučević diese Woche, sowie den Novi Sader Bürgermeister hat er abgesetzt, um die wütende Menge zu beschwichtigen. Experten sprechen von „Bauernopfern“, denn alle bedeutenden politischen Entscheidungen gehen seit mehr als einem Jahrzehnt von Vučić aus – auch wenn er laut Verfassung eigentlich gar nicht so viel Macht haben dürfte.
„Vučić hat eingesehen, dass die Proteste größer und mächtiger sind, als er zu Beginn gedacht hat. Die Rücktritte sind ein Versuch, den Protesten den Wind aus den Segeln zu nehmen – nachdem es mit Gewalt und Verhaftungen nicht funktioniert hat“, ordnet Balkan-Experte Vedran Džihić vom Österreichischen Institut für Internationale Politik ein. Vorfälle, bei denen mit der SNS verbundene Trupps Studierende krankenhausreif schlugen, haben zu einer noch größeren Mobilisierung geführt.
Bei den Menschen auf der Straße stoße Vučić mit seiner neuen, scheinbaren Dialogbereitschaft aber eher auf taube Ohren. Auch mit der erneuten Ankündigung: Alle relevanten Dokumente zum Bahnhofsunglück seien nun online einsehbar. Doch das hatte Vučić schon mehrmals versprochen und nicht gehalten.
Distanz zur Opposition
Studentin Šević betont, die Protestbewegung habe den Rücktritt des Premiers zu keinem Zeitpunkt gefordert. Viele Demonstranten distanzieren sich offiziell von politischen Forderungen und der zerstrittenen, ebenfalls unbeliebten Opposition. Hinter vorgehaltener Hand geben viele aber durchaus zu, sie wünschten sich den Sturz Vučićs.
Wäre das denkbar? In Serbien ist es zuletzt immer wieder zu großen Protesten gekommen, etwa nach Schul-Amokläufen 2023. Die aktuellen sind aber besser organisiert. Und sie gelten als die stärksten seit jenen der 90er-Jahre, die 2000 zum Sturz von Kriegsherrn und Präsident Slobodan Milošević führten.
Natürlich bestünden einige Unterschiede zur Situation 2000, etwa gebe es keine Unterstützung des Westens für einen Regimewechsel, sagt Džihić. Eine offene Frage sei auch, wie es nach einem solchen überhaupt weitergehen würde. Das System Vučić werde nicht morgen kollabieren, sagt der Experte, aber: „Die zittrige Art und Weise, mit der Vučić jetzt reagiert, deutet darauf hin, dass er den Zenit seiner Macht überschritten hat.“
Die Stimmung auf der Straße sei aktuell nur schwer umzukehren. Vorstellbar sei auch, dass Vučić bald erneut und stärker mit Gewalt gegen die Demonstranten vorgehe – und die Lage damit wohl weiter eskaliere. Wesentlich für die derzeitige Stärke der Proteste hält Džihić: „Die Menschen haben die Angst vor Vučić verloren, über die sich sein Regime immer an der Macht gehalten hat.“
Neuwahlen im Raum
Derzeit scheint Vučić nicht weiter zu wissen. Er hat angekündigt, die Gelder für Universitäten zu erhöhen – eine tatsächliche Protestforderung – und einige Tage über Neuwahlen nachdenken zu wollen. Der letzten Urnengang 2023 war nicht frei und von Protesten überschattet.
Die Studierenden jedenfalls demonstrieren weiter. Heute, Samstag, ist ein großer Protest in Novi Sad angekündigt. Jus-Student Stanišić hat sich schon am Donnerstag, mit Hunderten anderen zu Fuß aus Belgrad auf den 80 Kilometer weiten Weg dorthin gemacht. Er geht nicht davon aus, dass die Proteste bald aufhören: „Das wird ein langer Kampf. Wir müssen viele Probleme lösen – Schritt für Schritt.“
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