Proteste in Serbien eskalieren: "Sie schlugen meine Freundin blutig"

Anti-government protests escalate in Serbia
Die Proteste gegen das Machtsystem Vučić gehen mit voller Wucht weiter, sind teils in Straßenschlachten ausgeartet. Die Gewalt trägt Uniform, nach einem baldigen Abklingen sieht es nicht aus.

Dass sie bald zurückkommen würden, damit war zu rechnen. Mit der Gewalt der vergangenen Tage weniger. In Brand gesetzte Parteibüros, zerschlagene Fenster, Straßenblockaden, Prügeleien, Tränengas: Die Proteste gegen den serbischen Machthaber Aleksandar Vučić waren zuletzt abgeflaut, seit über einer Woche eskalieren sie nun. Nacht für Nacht kommt es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und den der Regierungspartei SNS nahestehenden Schlägertrupps sowie der Polizei, die vor allem zugunsten zweiterer eingreift.

Zur Erinnerung: Vor neun Monaten, im November, starben durch ein eingestürztes Bahnhofsvordach in der Stadt Novi Sad 16 Menschen. Zu Beginn gingen daraufhin überwiegend Studierende auf die Straßen, verlangten Aufklärung über die mit Korruption in Verbindung gebrachte Tragödie. Als diese nicht kam, wuchsen die Proteste sich aus – auf teils Hunderttausende Menschen, breitere Gesellschaftsschichten und auch kleinere Orte im Land.

"Ziemlich heftig"

Für den jungen Demonstranten Boris aus Belgrad, mit dem der KURIER schon zu Beginn der Proteste gesprochen hat, sind die aktuellen Geschehnisse „ziemlich heftig, um es milde auszudrücken“. Die Polizei agiere zunehmend brutaler: „Sie setzen stärkeres Tränengas ein, das musste ich selbst erfahren“. Zudem häufen sich Berichte darüber, dass die SNS-Schlägertrupps aggressiver geworden seien. Angriffe dieser auf Demonstranten und Oppositionelle bei Protesten und einer Fotoausstellung vergangene Woche gelten als Auslöser für die Straßenschlachten.

„Sie schießen mit Feuerwerkskörpern auf uns“, schildert Boris. Die Polizei reagiere darauf erst nicht, und verfolge dann die Demonstranten. Eine Freundin von ihm hätten sie kürzlich blutig geschlagen, auch Zähne habe sie verloren, so der Jus-Student. Ihn selbst habe ein Polizist erstmals Ende Juni erwischt, mit einem Schlagstock auf der Schulter.

Für Aufregung sorgt auch der Fall der Demonstrantin Nikolina Sinđelić, die vom Polizeikommandanten Marko Kričak in eine Garage gezerrt, geschlagen und bedroht worden sein soll. „Er zog heftig an meinen Haaren, sagte, dass er mich vor all diesen Menschen vergewaltigen werde“, erzählte Sinđelić.

Außer Kontrolle

Südosteuropa-Experte Florian Bieber von der Universität Graz sieht im Moment keine Zeichen eines Abklingens der Gewalt: „Es gibt niemanden, der diese Proteste kontrolliert. Und ich sehe keine Aufrufe zur Mäßigung.“ Vučić setze auf Gewalt, jetzt sehe man die Gegengewalt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Situation weiter zuspitzt, hält Bieber für groß.

Der serbische Präsident, der nun schon seit 13 Jahren an der Macht ist, bezeichnete die Demonstranten als „Terroristen“, „Schläger“ und „Mörder“. Man müsse die Städte von ihnen „säubern“.

Die Demonstranten fordern weiter Neuwahlen – fair und frei, wie sie in Serbien unter anderem schon aufgrund von Stimmenkäufen und wenig regierungskritischen Medien alles andere als selbstverständlich sind.

An sich hätten die Demonstranten mit ihrer Wahlliste, die sie angekündigt haben, keine schlechten Karten. Auf dieser sollen nicht die Studierenden stehen, mit denen alles begonnen hat, sondern von ihnen gewählte Personen. Die meisten Serben unterstützen die Proteste, sagt Bieber: „Gelingt es den Studierenden, eine einheitliche Liste zu haben, und unterstützt die Opposition diese dann auch, sind die Chancen für eine Mehrheit groß.“ Das alles hänge aber vom Timing ab sowie von den Kandidaten.

"Wird versuchen, mit allen Mitteln an der Macht zu bleiben"

Es wäre jedoch Präsident Vučić, der einen vorgezogenen Urnengang ausrufen müsste. Das ist äußerst unwahrscheinlich, müssten er und seine Partei Umfragen zufolge umgekehrt doch mit herben Verlusten rechnen. Laut dem Experten hält sich der Druck auf Vučić außerdem in Grenzen: „In seiner Partei hat er keine Kritiker, die Karrieren der Mitglieder hängen von ihm ab“. Auch die Sozialisten, mit denen Vučić in einer Regierung ist, seien ihm gegenüber bislang loyal. „Er wird versuchen, mit allen Mitteln an der Macht zu bleiben.“ Nur wenn er das Gefühl habe, ihm entgleite die Kontrolle, wäre er zu einem Wandel bereit – wenn er sich etwa auf seine Partner oder Institutionen wie die Polizei nicht mehr verlassen könne, meint Bieber.

Auch zu Generalstreiks ist es bisher noch nicht gekommen, wie beim Sturz des jugoslawischen Kriegsverbrechers und Präsidenten Slobodan Milošević 2000, als Serbien der Strom auszugehen drohte. Das hat mit den schlecht organisierten Gewerkschaften und der Angst vor Jobverlusten zu tun.

Kaum Druck von außen

Die EU übt laut Bieber auf Vučić – offiziell will sein Land Mitglied der Union werden – ebenfalls kaum Druck aus, was u. a. wirtschaftliche Gründe haben dürfte. Zwar kämen jetzt langsam, etwa vom Chef der EU-Delegation in Serbien, klarere Worte, dass Gewalt gegen Demonstranten inakzeptabel sei. „Aber es gibt auf EU-Ebene keine sichtbaren Diskussionen über Maßnahmen gegen die serbische Regierung, die mehr sind als rhetorische Verurteilung.“ Nehme die Gewalt weiter zu, könnte das für die EU schwieriger werden.

Demonstrant Boris jedenfalls wird weitermachen. Er hat kürzlich irgendwo gelesen, dass die Luft in Serbien in diesen Tagen entzündbar sei und ein einziger Funken alles in Flammen aufgehen lassen könne: „Das ist eine ziemlich passende Beschreibung“, findet er.

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