In Serbien und Nordmazedonien gehen Bürger nach Todesfällen gegen Bestechlichkeit auf die Straßen. Eine Expertin beobachtet Verschlechterungen, was das ohnehin große Korruptionsproblem in der Region angeht.
"Smells like Corruption Spirit", steht in großen und teils blutroten Buchstaben auf einem der zahlreichen Plakate, die Demonstranten in Serbien nun seit über vier Monaten hochhalten.
Die Massenproteste nach dem tödlichen Einsturz eines Bahnhofsvordachs in Novi Sad fordern nicht nur Aufklärung und Gerechtigkeit für die 15 Opfer. Sie setzen sich auch für funktionierende Institutionen ein; für Gerichte, die tatsächlich und unabhängig ihre Arbeit machen; für die Verfolgung von Straftaten – ganz egal, wer sie verübt.
Auch der 20-jährige Student Boris aus Belgrad, der regelmäßig demonstriert, sagt dem KURIER: "Unsere Bewegung war von Anfang an eine Anti-Korruptions-Bewegung, weil die Wurzel des Vorfalls in Novi Sad nun mal Korruption ist."
Darauf weisen Untersuchungen hin, wonach die Kosten der Novi Sader Bahnhofsrenovierung, die wohl schuld am Einsturz ist, sich aus unerfindlichen Gründen verfünffacht hat. Undurchsichtig ist zudem, warum die für das Projekt ausgewählten Firmen, darunter zwei chinesische, die Aufträge überhaupt erhalten haben.
Bestechlichkeit ziehe sich aber durch alle Bereiche der serbischen Politik und Gesellschaft, hat Boris den Eindruck. "Wenn du hier krank bist und nicht jahrelang auf einen OP-Termin warten willst, bringst du dem Arzt ein Geschenk vorbei. Oder gleich ein Kuvert mit Geldscheinen." Bei wichtigen Dokumenten von der Stadtverwaltung laufe es ähnlich.
"Hochrisikosektoren"
Auch Südosteuropa-Korruptionsexpertin Lidija Prokić von der NGO Transparency International, die jährlich den vielbeachteten Korruptionswahrnehmungsindex CPI veröffentlicht, kann eine ganze Reihe von Beispielen aufzählen, die zeigen, wie präsent Korruption im serbischen Alltag ist. Staatliche Infrastruktur- und Energieprojekte seien "sicherlich ein Hochrisikosektor". Beim Bau von Autobahnen und der Belgrader U-Bahn komme es etwa zu Ungereimtheiten.
Die internationale Weltausstellung Expo, die 2027 in Serbien stattfindet, stelle ebenfalls eine große Gefahr dar, so Prokić. Die Regierung unter Machthaber Aleksandar Vučić habe dafür große Bauvorhaben, darunter ein Nationalstadion. "Um das intransparent machen zu können, hat sie extra ein Gesetz geschaffen, mit dem sie gewisse Informationen zu den Projekten nicht offenlegen muss."
Ähnliche Probleme gibt es auch im Rest der Region. In Albanien gingen deshalb vergangenes Jahr ebenfalls Tausende, vor allem Oppositionelle, auf die Straßen. Und in Nordmazedonien sorgte kürzlich eine Brandkatastrophe in einem Club, bei der 59 Menschen gestorben sind, für Bestürzung – die Lizenz der Diskothek war ungültig, wurde durch Bestechung erteilt. Auch in Kočani, wo das Unglück passiert ist, wird nun protestiert.
"Ermittlungen selten, Verurteilungen noch seltener"
Laut Prokić ist der gesamte Westbalkan von schwerer Korruption betroffen, wenn sie sich auch von Land zu Land in Ausmaß und Art unterscheide. "Überall weisen Informationen, meistens von der Zivilgesellschaft und Journalisten aufgedeckt, auf Korruption hin, teils von hochrangigen Beamten." Oft passiere aber nichts: "Ermittlungen sind sehr selten, Verurteilungen noch seltener." Die geringe Achtung der Rechtsstaatlichkeit – übrigens ein zentrales Thema, was den EU-Beitritt der Staaten angeht – sei besorgniserregend.
Bei Anti-Korruptionsprotesten in Albanien warfen die Demonstranten sogar Molotowcocktails.
Als positives Beispiel hebt sie Albanien hervor, dessen Justiz in den vergangenen Jahren einen umfassenden Überprüfungsprozess durchgemacht hat. Hunderte Richter mussten in der Folge zurücktreten. Schon jetzt könne man beobachten, dass das Vertrauen der albanischen Bevölkerung in die Justizinstitutionen dadurch gewachsen sei. "Diese Reformen waren wichtig. Aber für größere Erfolge braucht es umfassendere, konsequentere und kontinuierlichere Bemühungen der Regierung", mahnt die Expertin.
Wie korrupt ist der Westbalkan also zusammengefasst heute? Prokić beobachtet hier eine Rückentwicklung. Vor ungefähr 15 bis 20 Jahren hätten die Regierungen erkannt, "dass Gesetze zur Korruptionsbekämpfung erlassen werden müssen, damit Gesellschaften funktionieren und öffentliche Mittel geschützt werden". Daraufhin habe es eine Zeit lang "echtes Engagement" in diesem Bereich gegeben.
Im vergangenen Jahrzehnt konzentriere sich aber wieder mehr und mehr Macht bei Regierungen, die keine unabhängige Kontrolle zulassen würden. Im Gegenteil: "Bereits geschaffene Vorschriften werden umgangen oder sogar durch neue Regelungen abgeschwächt."
Der CPI ist ein Ranking von Transparency International, das sich auf verschiedene Umfragen und Untersuchungen stützt und jährlich 180 Länder bezüglich Korruptionsfällen und -hinweisen reiht. Je mehr Punkte und je höher das Ranking, desto besser.
Auf dem Westbalkan schnitt 2024 demnach Montenegro am besten ab, mit gleichbleibender Punktezahl auf Platz 65. Kosovo und Albanien verbesserten ihre Punktezahl und landeten auf den Plätzen 73 und 80. Nordmazedonien, Serbien und Bosnien-Herzegowina verschlechterten sich und belegten die Plätze 88, 105 und 114.
Angeführt wird die Liste von Dänemark, Finnland und Singapur. Als am schlechtesten wurden Venezuela, Somalia und der Südsudan bewertet.
Österreich verlor vier Punkte, kam auf Platz 25 und erreichte damit sein historisch schlechtestes Ergebnis.
"Sollte nicht normal sein"
Die jeweiligen Bevölkerungen hätten lange Zeit nur zugeschaut, merkt Prokić an. Doch die aktuellen Proteste, die in der gesamten Region Unterstützung erfahren, würden nun klar zeigen, dass viele Bürger sich dem Problem sehr bewusst seien.
Demonstrant Boris sieht das ähnlich. Er ist sehr wütend, wie er sagt, denn "Korruption sollte nicht normal sein." Der junge Serbe studiert Recht und würde später eigentlich gern für eine staatliche Justizbehörde arbeiten. Stand jetzt kann er sich das aber nicht vorstellen, weil man für so einen Job eine Verbindung zur Regierungspartei SNS brauche oder jemanden bestechen müsse.
"Aber ich hoffe, dass wir die Dinge mit den Protesten zum Besseren verändern können", sagt er. Laut Expertin Prokić hat die Veränderung damit schon begonnen.
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