Selbstfindung in der Opposition: Wohin die Grünen steuern

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Sie diskutieren ihr Grundsatzpogramm neu und wollen die Lücken von CDU und SPD schließen.

In Österreich stecken die Grünen in der Krise, in Deutschland wollen sie sich nach dem Jamaika-Aus als kleinste Oppositionspartei neu erfinden: Wohin geht die Reise? Robert Habeck sollte es wissen, er steht - gemeinsam mit Annalena Baerbock - seit einigen Monaten an der Spitze der deutschen Grünen: Ein freundlich lächelnder Mann mit Dreitagesbart, leicht zerzaustem Haar, der als Noch-Umweltminister in Schleswig-Holstein zwischen Kiel und Berlin pendelt – und eigentlich auch Schriftsteller und Philosoph ist, also kein grünes Urgestein. Dennoch wird der 48-jährige Familienvater gerne mit einem verglichen: Joschka Fischer. Habeck könnte wie er die stärkste Führungsfigur der Ökos werden, sagt man hier. Auch weil er sie völlig umkrempeln will. Der Realo hält nichts von Flügellogik und sagt Sätze wie: „Wir wollen nicht in einer Öko-Ecke verkümmern.“ Die Grünen müssen mehrheitsfähiger werden. Und wollen auch Lücken schließen, die von den erodierten Volksparteien offen bleiben, so Habeck.

SPD-Agenden übernehmen

Das Vertrauen, dass es in der Gesellschaft fair zugehe, sei „unterlaufen“. Um das zu ändern, müssten Dinge in einer gewissen Radikalität verändert werden, findet der Grünen-Chef. So wollen sie etwa ein Solidarsystem schaffen, das über Hartz IV hinausgeht bzw. es ersetzt. Denn dieses habe den Niedriglohnsektor begünstigt und zu Abstiegsängsten geführt, so Habeck. Was die SPD also nicht antastet, setzen die Grünen auf ihre Agenda. Eine ähnliche Strategie fahren ihre Kollegen in Österreich, die beim Thema Wohnen linker werden wollen als die SPÖ.

Was beide im Selbstfindungsprozess unterscheidet: Die deutschen Ökos rütteln derzeit an ihren Grundthemen und überdenken selbst die Gentechnik neu. Auch von Streitereien zu Gesetzen über Nutztierhaltung will der neue Parteichef weg und hin zu Grundsätzlichem wie: „Ist das System der intensiven Tierhaltung richtig?“ Wenn nicht, dann müsse man mit Landwirten fair reden und es ändern.

Diese Art von grünem Pragmatismus und Konsens kennt man sonst nur von einem anderen bekannten Öko: Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, dem Habeck via Facebook gestern zum 70. Geburtstag gratulierte und ihn als Vorbild bezeichnete. Und wie Kretschmann weiß auch Habeck, wie man Menschen überzeugt, die per se nicht grün wählen: In Schleswig-Holstein, ein konservatives Pflaster, sind die Grünen jetzt stabil. Sein Rezept: Man habe nicht über andere schlecht geredet, ebenso wenig Debatten geführt wie „Die Bauern müssen jetzt alle verstehen, dass die Grünen recht haben.“ Er wolle Debatten so führen: „Wir als Gesellschaft profitieren von der industriellen Landwirtschaft, aber wir haben auch andere Fragen. Wenn wir was ändern wollen, dann nicht wir als Grüne, sondern wir als Gesellschaft.“ So holten sie Menschen auch außerhalb des eigenen Milieus ins Boot.

Was im Norden noch gelang: Jamaika, jene Koalition mit CDU und FDP, die die Grünen in die Bundesregierung gebracht hätte. Habecks Credo: „Parteien müssen bündnisfähig sein, auch wenn sie nicht gut zueinanderpassen.“ Bei allem Optimismus ist er aber Realo genug, um zu wissen, dass die Erwartungen, die er auslöst, auch schnell zur Flaute werden könnten. Der Findungsprozess der Grünen schließe ein, "dass wir uns verrennen, mal Niederlagen erleiden oder etwas schief geht."

 

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