Samtene Revolution: Wahrheit und Liebe gegen die Gewalt
„Mir hat das ,Präsidentieren’ niemand beigebracht“, pflegte Václav Havel immer wieder zu betonen. Es war ihm einfach passiert. 1989 – binnen weniger Novembertage – war aus dem unbekannten Dichter und Dissidenten der logische Kandidat für das höchste Amt der nunmehr freien Tschechoslowakei (ČSSR) geworden.
Davor war Havel nur wenigen Prager Intellektuellen und jenen Radiohörern ein Begriff gewesen, die verbotenerweise das tschechische oder slowakische Programm des US-Senders Radio Free Europe verfolgten.
Doch der Beginn der Samtenen Revolution veränderte alles: Die Prager Polizei schlug am 17. November 1989 eine Studenten-Demonstration brutal nieder. Die Hochschüler riefen einen Streik aus, dem sich Künstler und bald auch Arbeiter anschlossen.
Als ihr Sprachrohr formierte sich das Bürgerforum (Občanské fórum, OF), dessen Wortführer der langjährige Regimekritiker Havel wurde. Abend für Abend trat der Theatermann vor die Massen auf dem Prager Wenzelsplatz. Mit unverkennbarer Stimme samt rollendem „Ř“ mahnte Havel zum gewaltlosen Widerstand: „Wahrheit und Liebe müssen über Lüge und Gewalt siegen.“
Menge kürt Havel
Die Zensur fiel, das staatliche Fernsehen begann die Massenproteste zu übertragen. Der charismatische Dramaturg wurde über Nacht zum Polit-Star. „Wer soll der neue Staatschef werden?“, fragte ein Sprecher des Bürgerforums. Die Masse antwortete einstimmig: „Havel na Hrad“ („Havel auf die Burg“). Am 29. Dezember 1989 wurde der frühere Staatsfeind per Akklamation zum Präsidenten gewählt.
Eine Umfrage des tschechischen Fernsehens über die Gründe für Havels Popularität ergab später eine einfache Antwort: „Er mag uns.“ Zu Autogrammen zeichnete er ein Herz (siehe Bild unten).
Havel nahm viele Weggefährten aus der Widerstandszeit mit auf den Hradschin. Von Protokoll hatten die neuen Berater anfänglich nicht viel Ahnung. Improvisation war angesagt. Sie flitzten mit Tretrollern durch die Gänge der Prager Burg.
Der Dienstag wurde zum „Pullovertag“ erklärt. Die formlose Garderobe wurde bald zum Thema. Doch die meisten von Havels Mitarbeitern waren als Dissidenten zu manueller Arbeit als Heizer oder Taxifahrer verdonnert worden und besaßen gar keine Anzüge. Außenminister Jiři Dienstbier begleitete Havel bei seiner ersten USA-Visite in einer grünen Bundeswehrjacke.
Viel zu kurze Hose
Havel selbst trug zu seiner Inauguration einen neuen Anzug mit viel zu kurzer Hose. Heute noch krempeln sich deshalb seine Freunde und auch so manche Diplomaten an Gedenktagen zu Ehren Havels die Hosen auf. Vor einer Audienz bei Königin Elizabeth II. in London ergriff Havels Büroleiter Karel Schwarzenberg die Initiative und ließ den ganzen Präsidententross aus eigener Brieftasche einkleiden.
Als ich Schwarzenberg bei meinem ersten Interview (siehe Bild unten) nach seinem Kanzlergehalt fragte, zog er lachend seinen Lohnzettel aus der Lade. Der Aristokrat verdiente umgerechnet etwa 300 Schilling, ein Viertel des damaligen österreichischen Mindestlohns.
Gerda Neudeck, damals Direktorin der Schwarzenberg’schen Zentralkanzlei in Wien, belegte sofort einen Tschechisch-Intensivkurs, um sich mit den Mitarbeitern ihres Chefs in Prag verständigen zu können. Denn die Sprachkenntnisse am Hradschin waren rudimentär, die Büro-Ausstattungen völlig desolat. Schwarzenberg reiste nach Wien, um PCs und Drucker zu besorgen.
Möbel vom Dachboden
Die Renovierung der Prager Burg war Havel ein Anliegen. Als auf dem Dachboden extra für den Hradschin entworfene Möbel des slowenischen Architekten Jože Plecnik entdeckt wurden, ließ Havel sie in seinem Büro aufstellen. Die Burg und die Gärten wurden für die Bürger geöffnet.
Der Theatermann Havel verstand es, sich in Szene zu setzen. Nicht nur alle seine Reden schrieb er selbst. Dokumentarfilme zeigen, dass er auch bei Staatsempfängen nichts dem Zufall überließ. Havel legte jedes Detail fest: Licht, Möbel, Blumen, die Türe, durch die er den Raum betrat, die Position aller Anwesenden zur Kamera.
Legendär sind Havels „Überfälle“ geworden, die ihm enorme Freude bereiteten. Unangemeldet tauchte er an verschiedensten Orten auf – in Polizeistationen, Schulen, Wirtshäusern, Bahnhöfen, Fabriken – und mischte sich unter das Volk.
Brenzlige Situation
Eine seiner Extratouren habe ich als Reporterin hautnah miterlebt: Am 14. März 1991 besuchte Havel Bratislava und schlenderte mit einer Handvoll slowakischer Freunde durch die Straßen. Seine Bodyguards folgten ihm unauffällig. Auf dem ehemaligen Stalinplatz gedachten slowakische Ultranationalisten gerade des slowakischen Staates von 1939 – ein faschistischer Staat von Hitlers Gnaden mit Prälat Jozef Tiso an der Spitze.
Václav Havel steuerte direkt auf die Menschen zu. Wir alle trauten unseren Ohren nicht. „Genug von Havel“ – „Genug von Prag“ – „Für eine eigenständige Slowakei“, brüllte die Masse. Der Mann, der Havel als Erster erkannte, schrie ihn an: „Sind Sie wirklich Jude?“ Ein Handgemenge bahnte sich an.
Die Sicherheitsleute drängten den Staatschef entlang der Häuserfront in Richtung Dreifaltigkeitskirche, wo sie ihn in sein wartendes Auto stopften. Es war keine Sekunde zu früh. Kaum war die Tür geschlossen, schlugen Fanatiker mit Fahnenstangen auf das Dach der Limousine. Nur mit Mühe konnte die Polizei dem Wagen freie Bahn verschaffen.
Dies war der Beginn des Auseinanderbrechens der Tschechoslowakei. Havel wertete es als sein persönliches Versagen, die Politiker nicht mehr zur Zusammenarbeit bewegen zu können. Aus ihm wurde der letzte tschechoslowakische und der erste tschechische Präsident.
Gern gesehener Gast
In seinen fast 14 Jahren an der Spitze hat Havel dem Land zu Ansehen und Respekt verholfen, er hat es in die EU und die NATO geführt, war an der Auflösung des Warschauer Pakts beteiligt. Internationale Gäste gaben sich am Hradschin die Klinke in die Hand – mehrere US-Präsidenten, die britische Königin, Papst Johannes Paul II., der Dalai Lama, aber auch Michael Jackson und Frank Zappa.
Im Ausland war Havel ein gerne gesehener Gast. Seine Reisen mussten aber immer wieder unterbrochen werden. Havels Gesundheit war angeschlagen, weil er Kettenraucher war, aber auch als Folge mehrerer Gefängnisaufenthalte. Insgesamt fünf Jahre war Havel als politischer Gefangener inhaftiert.
Hätten die Kommunisten 1948 die Macht in der ČSR nicht ergriffen, wäre Havels Leben sorgloser verlaufen. Im Zeichen der Waage 1936 in eine wohlhabende, großbürgerliche Familie geboren, hatte er Eliteschulen besucht. Eine Hochschule blieb ihm nach dem KP-Putsch verwehrt. Havel arbeitete in einem Chemielabor, begann ein Fernstudium der Dramaturgie.
Als Bühnenarbeiter atmete er erste Theaterluft. Seine rund zwanzig Theaterstücke erlebten ihre Uraufführungen im Ausland, in der Heimat waren sie verboten. Havel war Mitbegründer und Sprecher der Untergrundinitiative Charta 77. Das Angebot, in den Westen zu emigrieren, lehnte der Freiheitskämpfer ab – lieber ging er ins Gefängnis.
Havel hat selbst zugegeben, in außenpolitischen Fragen glücklicher agiert zu haben als in innenpolitischen. Als größte Fehlentscheidung wird ihm die Amnestie von 23.000 Gefangenen im Jahr 1990 vorgeworfen. Unter ihnen waren auch Schwerverbrecher, die bald rückfällig wurden. Viele Slowaken können Havel die Schließung der Rüstungsfabriken nicht verzeihen, die zu großer Arbeitslosigkeit führte.
Seine Versuche, die Aussöhnung mit den vertriebenen Sudetendeutschen voranzutreiben, missfiel vielen Landsleuten. Auch seine zweite Ehe mit der Schauspielern Daša Veškrnova – noch vor Ablauf des Trauerjahrs nach dem Tod von Olga Havlova – wurde ihm übel genommen.
Tausende an seinem Sarg
Nach seinem Abgang aus dem Präsidentenamt lebte der Pensionist Havel gesundheitlich schwer angeschlagen und zurückgezogen in seinem Haus in Ostböhmen. Als er im Alter von 75 Jahren starb, war die Anteilnahme aber gigantisch. Tausende Trauernde folgten seinem Sarg, die Prozession reichte von der Karlsbrücke bis zum Hradschin. Am Requiem im Veitsdom nahmen siebzehn amtierende und dreizehn ehemalige Präsidenten teil.
Zu Ehren des außergewöhnlichen Staatsmanns einer außergewöhnlichen Zeit wurde der Prager Flughafen nach Václav Havel benannt. Ironie am Rande: Er hatte zeit seines Lebens panische Angst vor dem Fliegen.
Jana Patsch
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