„Gleichzeitig nützt die Verlängerung eines Krieges in der Regel einer der beiden Konfliktparteien. In unserem speziellen Fall ist es Russland, denn es erhält die Möglichkeit, seine militärische Macht wiederherzustellen und auszubauen“, analysierte Walerij Saluschnij im Herbst in einem viel beachteten Essay.
„Militärisches Patt“
Der Befehlshaber der ukrainischen Streitkräfte führte auf neun Seiten aus, was notwendig wäre, aus der „militärischen Pattstellung“ herauszukommen. Für den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij ein Affront: Er hält daran fest, dass die Ukraine sowohl die Krim als auch den Donbass zurückerobern müsse, ehe Frieden geschlossen werden könne. Spätestens seit der gescheiterten Gegenoffensive im Sommer ist dieses Ziel in weite Ferne gerückt.
➤ Ex-Google-CEO will Drohnen für Ukraine bauen: Kommen nun die Killerroboter?
Derzeit wird erwartet, dass die ukrainischen Streitkräfte dieses Jahr in der Defensive sein werden und versuchen, mit neuen Mobilmachungen und neuen Waffenlieferungen aus dem Westen genügend Ressourcen für eine erneute Offensive zu sammeln. Doch unter wessen Kommando soll sie stattfinden? Laut Berichten renommierter Zeitungen wollte Selenskij einen Schlussstrich unter Saluschnij als Oberbefehlshaber ziehen und soll ihn am Montag zum Rücktritt aufgefordert haben.
Weigerung
Die Times berichtete, Saluschnij habe den Präsidentenberatern mitgeteilt, dass ihre Einschätzungen der militärischen Lage eher positiv als realistisch seien. Danach sei er zum Rücktritt aufgefordert worden. Als er sich geweigert habe, habe Selenskij gesagt, er werde ein Dekret zu seiner Entlassung unterzeichnen.
➤ Das passiert, wenn Awdijiwka fällt
Allerdings hätten potenzielle Nachfolger wie der Chef des Militärgeheimdienstes Kyrylo Budanow oder General Oleksandr Sirskij das Angebot abgelehnt.
So sei Selenskij dazu gezwungen gewesen, zunächst an Saluschnij festzuhalten. Bereits bei der Verteidigung Bachmuts waren die beiden unterschiedlicher Meinung: Saluschnij empfahl, die Stadt aufzugeben, um die hohen Verluste der ukrainischen Streitkräfte zu reduzieren und genügend Soldaten für die Gegenoffensive im Süden zur Verfügung zu haben. Selenskij wollte die Stadt halten und zum „Symbol des Widerstands“ machen.
Hohe Zustimmung
Im Mai fiel Bachmut an die Russen. Doch es sind nicht nur die militärischen Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden: Selenskijs Umfragewerte sinken seit Herbst stetig. Nur mehr 62 Prozent der Ukrainer vertrauen ihm, nicht mehr knapp 90 wie zu Kriegsbeginn. Saluschnij (88 Prozent Zustimmung) hingegen wird unverändert als Volksheld wahrgenommen – und man traut ihm mehr zu: In einer Stichwahl um das Präsidentenamt würden derzeit beide gleich viele Stimmen bekommen.
➤ Was die größte NATO-Übung seit Ende des Kalten Kriegs bedeutet
Das ukrainische Verteidigungsministerium widerspricht den Berichten über die versuchte Absetzung zwar, allerdings treten die Bruchlinien zwischen dem ukrainischen Präsidenten und seinem General eben nicht erst seit Saluschnijs Essay im Economist zutage. Offiziell hat er keine Ambitionen auf ein politisches Amt bekundet, sie allerdings auch nicht dementiert. Vor allem die ukrainische Opposition sieht in ihm den aussichtsreichsten Kandidaten gegen den ukrainischen Präsidenten.
Wie auch immer Selenskij künftig über das Schicksal Saluschnijs entscheiden wird – es dürfte ihn schwächen: Behält er ihn als Befehlshaber, signalisiert das Schwäche. Entlässt er ihn, der bei Soldaten und Zivilisten hohes Ansehen genießt, dürfte dies dem Vertrauen in Selenskijs Handlungsfähigkeit schaden.
Kommentare