Gedenkstätten: Orte der Wahrheit

Das Wissen über den Nationalsozialismus nimmt ab, sagt der Historiker Günter Morsch. Wie kann es weiter vermittelt werden?

Nein, es ist nicht der Appellplatz, wo die Menschen gedemütigt wurden, oder die schwarze Mauer, an der einst der Galgen stand – es ist eine Holzbaracke, die bei den Jugendlichen erste Emotionen auslöst. Dicht aneinandergedrängt steht die Schulgruppe aus Niedersachsen zwischen den Holzpritschen. Ihre Blicke wandern zur Decke. Grüne Farbe blättert ab. Spätestens jetzt halten auch jene inne, die zu Beginn der Führung noch kicherten. Die Menschen durften nichts mitnehmen, vielleicht ein Stück Seife oder einen Pullover, erzählt Gedenkstätten-Pädagogin Katja Anders. Mehr als 20 Menschen teilten sich hier ein Waschbecken. „Was?“, flüstert eine Schülerin entsetzt.

Die Pädagogin kennt diese Momente, wo das Geschehene plötzlich begreifbar wird. Seit sechs Jahren führt sie Klassen durch Sachsenhausen nördlich von Berlin. Ein Ort, an dem die Strategie der Entwürdigung und Entmenschlichung ab 1936 praktiziert wurde. 200.000 Menschen aus ganz Europa waren hier bis 1945 inhaftiert, weil sie nicht ins Menschenbild der Nationalsozialisten passten. Zehntausende von ihnen starben an Hunger, Zwangsarbeit, Misshandlung und systematischer Tötung.

Erinnern ohne Zeugen

Die Erinnerungen an diese Verbrechen aufrechtzuerhalten, ist eine zunehmende Herausforderung geworden: Zeitzeugen sterben, für jüngere Generationen rücken die Geschehnisse in die Ferne; dazu kommen rechte Parteien an die Macht, die sie verharmlosen. Zuletzt wurde in Deutschland über Pflichtbesuche diskutiert. Anlass waren Übergriffe auf Juden – von Rechtsradikalen sowie muslimischen Migranten.

„Einmal Gedenkstätte rein und wieder raus, das funktioniert bei niemandem“, weiß Günter Morsch, Leiter der Gedenkstätte, mittlerweile im Ruhestand. Der 65-Jährige mit dem weißen Haar und der schwarzen Brille steht vor dem Fenster eines Besprechungsraums. Hier, in dem T-förmigen Gebäude unweit des Konzentrationslagers, richteten die Nationalsozialisten ihre Kommandozentrale ein. Morsch wirkt nachdenklich, eine Beobachtung treibt ihn um. Das Wissen über den Nationalsozialismus hat abgenommen, ebenso der Stellenwert von Geschichte, sagt er: „Mit Mathe alleine kann man möglicherweise eine Karriere machen, aber dass man damit ein politischer Mensch wird, der sorgfältig auf seine Umwelt achtet, ist nicht zwangsläufig gegeben.“

Dabei wäre dies ob der aktuellen Entwicklungen umso wichtiger: Das Gegeneinander europäischer Staaten, der Nationalismus, der in die Parlamente gewandert ist, bereiten Morsch große Sorgen. „Das ist etwas, was die meisten Überlebenden für nicht mehr möglich gehalten haben.“ Besonders schmerzt es ihn, dass vor einem Jahr eine Partei in den Deutschen Bundestag eingezogen ist, „die in einer Rhetorik gegen die deutsche Erinnerungskultur hetzt, die die Überlebenden tief getroffen hätte“.

Der Historiker hat in den 25 Jahren, in denen er die Gedenkstätte geleitet hat, viele Überlebende kennengelernt. „Man ist völlig entwaffnet, wenn man diesen Menschen gegenübertritt und erlebt, mit welcher Hoffnung und Sehnsucht sie denen begegnen, die ihr Vermächtnis weiterführen. Ihre Hoffnung richtet sich immer auf die nächste Generation.“

Diese ist an diesem Tag knapp zwei Stunden auf dem Gelände der Gedenkstätte unterwegs; und nach den Eindrücken in der Baracke haben die Schüler Fragen. Konnten die Menschen nicht flüchten? Haben sie einander geholfen, wollen zwei 15-Jährige wissen. Ein Bub sieht sich noch einmal um: Die Mauer, die Wachtürme, das hätte er sich nie so groß vorgestellt. Seine Mitschülerin ist indessen überrascht, dass nicht nur Juden inhaftiert waren, sondern auch Homosexuelle, Obdachlose und Gewerkschafter. „Niemand hatte darauf Einfluss, ob er verfolgt wurde oder nicht“, erklärt Pädagogin Katja Anders.

Der Kampf der Nationalsozialisten ging nicht alleine gegen Juden, „sondern auch um eine Gesellschaft, die darauf beruhen sollte, alles, was man als minderwertig bezeichnete, auszurotten“, sagt Morsch. Der klassische Antisemitismus habe die Juden zum Hauptfeind erklärt, dahinter stand aber ein gesamtkultureller Prozess. Für Antisemiten standen Juden auch für Moderne, Demokratie, Lebendigkeit, Fantasie, Kreativität – „man schlug den Sack und meinte den Esel“, fasst der Historiker zusammen. Ähnlich verhält es sich heute: „Man schlägt auf Geflüchtete, auf Fremde und meint eigentlich alle Minderheiten und unsere freiheitliche Gesellschaft.“

Gedenkstätten: Orte der Wahrheit

Brücken schlagen

Den Vorschlag einiger Politiker, Muslime wegen ihrer angeblichen antisemitischen Ressentiments zu KZ-Besuchen zu verpflichten, findet er falsch. Es sei ein fatales didaktisches Konzept, bei dem man sie segregiere und anprangere. Man setze in Sachsenhausen dagegen auf integrative Konzepte und versuche, „eine Brücke zur Lebenswelt und Herkunft der Menschen zu schlagen, auch indem man ihnen erklärt, dass sie ebenfalls in diesen Prozess der Vernichtung gekommen wären“.

So finden sich in der Gedenkstätte auch Biografien von farbigen Menschen. Sie waren Kinder von französischen Soldaten aus dem Maghreb, die nach dem Ersten Weltkrieg das Rheinland besetzt hatten – und nicht in die rassistische Ordnung der Nationalsozialisten passten.

Manchmal finden Schüler von selbst einen eigenen Bezug. Bei der Frage, ob sich erneut ein Regime wie jenes der Nationalsozialisten bilden könne, drucksen manche herum. Ein Schüler sagt klar: Nein, die Gesellschaft sei doch schon weiter. Eine 15-Jährige glaubt, dass es wieder passieren kann. Nicht in Deutschland, aber vielleicht in der Türkei, wo ihre Verwandten leben. 

Für Günter Morsch sind Gedenkstätten wie Sachsenhausen Orte der Wahrheit. „Es geht nicht nur darum, etwas über Geschichte zu lernen, sondern eine historisch fundierte Haltung zu bestärken.“ Viele, die hierherkommen, wollen sich davon überzeugen, dass es geschehen ist. Wenn am Ende des Tages in den Besucherbüchern „Nie wieder“ steht, ist das für ihn mehr als eine Phrase. „Das drückt aus, dass die Menschen begriffen haben, was an diesen Orten geschehen ist, und dass sie sich darin bestärkt fühlen, für Demokratie und Menschenrechte einzutreten.“ 

Gedenkstätten: Orte der Wahrheit

Hintergrund: Sachsenhausen "war die Spinne im Netz"

Sachsenhausen war die erste Neugründung eines KZ nach der Ernennung von SS-Chef Heinrich Himmler zum Chef der deutschen Polizei im Juli 1936. Als Modell- und Schulungslager der SS nahm Sachsenhausen eine Sonderstellung ein. Es war nicht nur Todeslager, erklärt Historiker Günter Morsch – es war „die Spinne im Netz“. Von hier aus wurden alle Konzentrationslager im Machtbereich der Nationalsozialisten gesteuert, die Wachmannschaften der SS ausgebildet und über das Schicksal von Millionen Menschen entschieden: wie sie untergebracht, drangsaliert und systematisch ermordet wurden. 

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