Russlanddeutsche: Vergessene und verführbare Wähler

Die AfD wirbt in Marzahn-Hellersdorf um Russlanddeutsche.
Sie sind die größte wahlberechtigte Migrantengruppe – die AfD nutzt das geschickt aus.

Eingelegte Tomaten und cremegefüllte Kekse "Platonki" gibt’s im Mix-Markt, russische DVDs und Putin-Matrjoschka im Kiosk nebenan, aus dem Lautsprecher tönen schwermütige Klänge. Hier, im Ostberliner Stadtteil Marzahn, zwischen Plattenbauten, die sich scheinbar endlos nach oben strecken, leben viele russischsprachige Migranten sowie Russlanddeutsche.

Wie viele es sind, lässt sich nicht genau beziffern, der Tagesspiegel schätzt sie auf 30.000. Einige von ihnen sind "Spätaussiedler", sie sind in der ehemaligen Sojwetunion geboren und aufgewachsen, ihre Vorfahren haben deutsche Wurzeln hatten. Bundeskanzler Helmut Kohl hat sie einst im Zuge seiner Öffnungspolitik nach Deutschland geholt – und damit Millionen dankbare Wähler. Nur, heute wählen viele nicht mehr CDU, sondern AfD. 2016 schafften die Rechtspopulisten bei den Landtagswahlen im Bezirk Marzahn-Hellersdorf 23,6 Prozent.

Auch Olga Vitlif fühlt sich von ihnen angesprochen. Die Krankenschwester kam vor vielen Jahren nach Berlin. Da war sie noch unpolitisch, erklärt die zierliche Frau und zupft an ihrem blauen Samtblazer. 2015 hat sich das geändert. Als Tausende Flüchtlinge über die Grenzen kamen, hatte sie das Gefühl, es läuft etwas falsch. "Ich bin legal eingereist, musste Hürden überwinden, die Flüchtlinge kamen einfach und warfen die Dokumente weg", sagt Olga. Je länger man ihr zuhört, desto stärker hört man ein Gefühl heraus: andere Migranten werden heute scheinbar besser behandelt. Ein Gefühl, das die AfD aufgreift. Und sie geht dabei geschickt vor, meint Alexander Reiser vom Aussiedler-Verein "Vision", der sich für Toleranz und Demokratie einsetzt. Der Autor arbeitete in der Sowjetunion lange als Journalist, 1996 kam er nach Berlin. Seine Eltern waren gebürtige Schwaben und wurden einst von Stalin nach Sibirien deportiert.

Keine Anerkennung

Russlanddeutsche "lechzen nach Anerkennung", erklärt er mit schwäbischem Akzent. Als in den 1990er-Jahren geschätzte zwei Millionen nach Deutschland kamen, wurde sie mit Misstrauen und Ablehnung empfangen. "Das hat eine tiefe Kränkung hinterlassen." Vor allem, da sich die Aussiedler als "Heimkehrer" und Deutsche verstehen.

So wie Olga Vitlif, sie wuchs in der Sowjetunion als Tochter einer Tatarin und eines Russlanddeutschen auf. Deutschsein galt in der Familie als Qualitätsmerkmal, auf ihre Wurzeln war sie stolz. Dennoch wurde sie hier nicht als Aussiedlerin anerkannt, sie sei Ausländerin, erklärt sie mit leiser Stimme. Und im Gegensatz zu den fast 1,8 Millionen wahlberechtigten Russlanddeutschen darf sie ihre Stimme kommenden Sonntag nicht abgeben. Dennoch unterstützt sie die AfD, half zuletzt sogar dabei, das Wahlprogramm zu übersetzen.

Denn was die Partei Menschen wie Olga verspricht: Sie unterstützt und hilft bei Behördengängen, damit sie eingebürgert werden. So wirbt sie auf den Straßen oder in sozialen Netzwerken wie Odnoklassniki und VKontakte, das Pendant zu Facebook, um deren Unterstützung. Im Netz wird auch alles angeprangert, was Russlanddeutsche stört: Drohende Islamisierung, Zerstörung des traditionellen Familienbilds oder Mini-Rente. Dass der Ton ihrer Partei radikal ist, damit hat Olga kein Problem, sagt sie.

Nicht nur, dass sich viele Russlanddeutsche in der Gesellschaft nicht akzeptiert fühlen, manche sind auch nie wirklich angekommen, sagt Alexander Reiser. Sie haben Probleme mit der Sprache, verdienen zu wenig und haben zudem oft eine totalitäre Denkweise verinnerlicht. Um diese Probleme hat sich jahrelang nie jemand angenommen, berichtet er. Jetzt nützt es jedenfalls vor allem der Rechtspartei.

Kommentare