NATO als Aggressor? "Gab keine Irreführung, kein gebrochenes Versprechen“

Hätte Russland nicht die Ukraine angegriffen, wären Finnland und Schweden bei ihrer gewohnten Bündnisfreiheit geblieben
Historiker Wolfgang Mueller über Russlands vorgebliche Kriegsgründe und die Frage, warum Schweden und Finnland jetzt der NATO beitreten.

Schweden und Finnland treten der NATO bei, das ist eine Zeitenwende. Die Reaktion aus Moskau ist aber altbekannt: Man fasst das als Drohung auf und liefert den Finnen keinen Strom mehr. Ohnehin stellt der Kreml die Attacke auf die Ukraine als Reaktion auf die NATO-Osterweiterung dar. Historiker Wolfgang Mueller beleuchtet im KURIER-Gespräch Mythen, Propaganda und das spezielle Wesen von Österreichs Neutralität.

KURIER: Putin behauptet, die NATO sei schuld am Krieg: Sie habe in den 1990ern versprochen, sich nicht weiter ostwärts auszudehnen. Wie viel Wahres ist da dran?

Wolfgang Mueller: Kein gebrochenes Versprechen von Dritten, ob real oder vermeintlich, würde einen Angriffskrieg Russlands rechtfertigen. Die Kriegsschuld ist somit klar.

NATO als Aggressor? "Gab keine Irreführung, kein gebrochenes Versprechen“

Historiker Wolgang Mueller

Wolfgang Mueller: Kein gebrochenes Versprechen von Dritten, ob real oder vermeintlich, würde einen Angriffskrieg Russlands rechtfertigen. Die Kriegsschuld ist somit klar. Zweitens kann jeder Staat laut UNO-Charta souverän entscheiden, ob er einem Bündnis beitritt oder nicht. Das hat auch Russland anerkannt. Drittens gab es nach derzeitigem Wissen kein rechtsverbindliches Versprechen.

Historisch geht der Vorwurf auf 1990 zurück, als Westdeutschland die Zustimmung Moskaus zur Wiedervereinigung suchte. Außenminister Genscher bot an, die NATO keinen Zoll nach Osten auszudehnen. Vertraglich vereinbart wurde, keine fremden NATO-Truppen in Ostdeutschland zu stationieren. Das wurde auch eingehalten. Die Umbrüche endeten aber nicht mit der Einheit. Auch die Staaten Ostmitteleuropas orientierten sich nach Westen.

 

Grund für die NATO-Hinwendung war  wohl die Angst vor Moskau.

Nach 40 Jahren Sowjet-Besetzung, Militärinterventionen und Diktatur gab es ein Bedrohungsgefühl. Dazu kamen aktuelle Forderungen russischer Politiker, das russländische Imperium samt Polen und Finnland wiederherzustellen. Darum drängten die Staaten Ostmitteleuropas in die NATO, obwohl das dem Westen  anfangs nicht recht war. Genscher wollte die Einheit nicht riskieren. Er sagte, der Erweiterungsstopp solle über Deutschland hinaus gelten.

Gaben andere dieses Versprechen?

Die meisten Regierungschefs in der NATO sowie deren Generalsekretär Manfred Wörner waren 1991 der Meinung, dass keine Erweiterung stattfinden würde. Das war keine bewusste Irreführung, aber auch kein Versprechen. Zum Vergleich: Eine Delegation Russlands bei der NATO sagte 1991  –  vor Auflösung der Sowjetunion –, dass Russland keine eigene Armee haben werde.

Moskau sagt dennoch, die NATO habe Versprechen gebrochen.

Diese Behauptung ist nicht belegt. Vielmehr hat die NATO nach 1991 die Sicherheitsinteressen Russlands durchaus berücksichtigt, keine großen Truppenteile oder Angriffswaffen stationiert, sondern abgerüstet. Russland wurde in die Partnerschaft für den Frieden eingebunden. Bis zuletzt war die NATO bereit, über Abrüstung und Sicherheitsgarantien zu verhandeln. Sie hat ferner oft erklärt, dass sie die Staaten des Warschauer Pakts nicht als Feind sieht.

Der andere Kriegsgrund  des Kreml sind „Nazis“ in Kiew. Hat das reale Hintergründe – oder ist das Wort nur eine Chiffre?

Der Begriff war schon in der UdSSR ein Instrument, um politische Gruppen zu diskreditieren. Die Sozialdemokratie wurde als „Sozialfaschismus“ verunglimpft. Ein Flügel der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung in den 1930er Jahren unter  Stepan Bandera war tatsächlich rechtsextrem. Auch in Russland vor dem Ersten Weltkrieg und danach im Exil gab es protofaschistisch-antisemitische Gruppen. Ein Teil der Bandera-Bewegung hat mit Nazis kollaboriert, beging Verbrechen an jüdischen, russischen und polnischen Menschen. Später wurde alles, was  die ukrainische Unabhängigkeit betraf, als faschistisch gebrandmarkt.

Heute finden Rechtsextreme bei Wahlen in Ukraine sehr wenig Widerhall. Es gibt keine Präsidentenwahl, bei denen sie es in die Stichwahl geschafft hätten, sie sind im Parlament gar nicht oder mit Einzelmandaten vertreten. Im Zuge der Euromaidan-Revolution und der russischen Aggression 2014 entstanden Selbstverteidigungsgruppen gegen Separatisten, darunter die Asow-Bataillone. Sie gerieten wegen rechtsextremer Symbolik und Übergriffen in die Kritik. Das führte zu ihrer Auflösung und Eingliederung  in die Armee.

Meines Erachtens liegt der Kriegsgrund aber anderswo: bei der Entstehung einer demokratisch-prowestlichen Gesellschaft in der Ukraine, die vom Kreml als Gegenmodell zum System Putin betrachtet wird.
 
Wieso fallen Putins Argumente auf fruchtbaren Boden, wo doch die Geschichte anderes erzählt?

Die Bevölkerung Russlands ist geschult darin, sich an staatliche Propaganda anzupassen. So interpretiere ich die 75 Prozent  Rückhalt  für den Krieg. Putins Geschichtsbild ist imperial, Ziel ist die Festigung und Expansion einer autoritären Supermacht. Die Verbrechen des Stalinismus, dass andere Staaten zerstückelt, unterdrückt und Menschen abgeschlachtet wurden, werden ausgeblendet. Daneben instrumentalisiert Russland den  Opfermythos – die Darstellung, Russland habe nie andere angegriffen, sondern sei immer nur vom Westen überfallen worden. Das wird unkritisch im Unterricht und in Staatsmedien transportiert. Gleichzeitig wird in Talkshows über Atombombenabwürfe auf England und die USA, die Zerstörung Warschaus oder den Marsch auf Berlin spekuliert. Diese Hetze begann 2014.

Wieso gibt es gerade in Österreich und Deutschland eine große Resonanz für diesen Opfergestus?

Das hängt wohl mit dem Vernichtungskrieg Hitler-Deutschlands gegen die Sowjetunion zusammen. Ansonsten ist der Widerhall für die Argumentation Putins in Europa eher bipolar – am rechten und linken Rand des politischen Spektrums. In Deutschland sind das AfD und Linke, in Frankreich Le Pen und Mélenchon. Dafür sind etwa Achtundsechziger offen, die Antifaschismus im sowjetischen Sinn interpretieren, den Sowjetkommunismus als akzeptabel und die UdSSR als Friedensmacht sahen. Der Antiamerikanismus bildet ein Prisma für sie und am rechten Rand, wo Russland als antiliberale, nationalkonservative Macht begrüßt wird, als autoritärer Staat, der sich gegen die europäische Integration richtet.

Wieso legen Finnland und  Schweden die Neutralität mit Leichtigkeit ab, während das in Österreich nicht infrage kommt?

Österreich hat die Neutralität mythifiziert. Sie war der Preis für das sowjetische Ja zum Staatsvertrag 1955. Die  Zeit danach, Frieden, Wohlstand, die Entstehung einer Nationalidentität, werden mit ihr assoziiert. Ein Kausalzusammenhang besteht aber nur zum Teil. Sie positiv zu besetzen, war Strategie der UdSSR, um westliche Staaten zu entwaffnen. Die NATO wurde vom Kreml als Feindbild aufgebaut.

Tatsächlich schützt die Neutralität aber Staaten nicht automatisch vor Krieg. Das neutrale Belgien wurde 1914, die neutrale Ukraine 2014 angegriffen. Österreich profitiert davon, dass es fast nur von NATO-Gebiet umgeben ist. Schweden und Finnland haben keine so gut eingebettete Lage. Schon Kalten Krieg hieß es: Erhöht der Kreml den Druck auf Finnland, tritt  Schweden der NATO bei. Eine ähnliche Entwicklung sehen wir jetzt.

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