Was steckt hinter Putins neuer Atomdrohung?
Die Bilder sind immer die gleichen: Wladimir Putin am Kopfende des langen Tisches, links und rechts sein willfähriger Sicherheitsapparat. Immer, wenn das im russischen TV zu sehen ist, ist klar: Hier wird gerade etwas Wichtiges entschieden.
Am Mittwoch war es die Nukleardoktrin, die Putin öffentlichkeitswirksam verändert ließ. Russland darf seine Kerwaffen künftig auch gegen Staaten einsetzen, die selbst keine nuklearen Waffen besitzen. Was steckt hinter diesem Schritt? Gegen wen zielt er? Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen.
Was genau steht in der Nukleardoktrin?
Die russische Militärdoktrin regelt die Sicherheitspolitik des Landes, darunter den Einsatz von Atomwaffen. Solche Vorgaben existieren schon seit Sowjetzeiten und werden regelmäßig verändert.
Bisher konnten Nuklearwaffen eingesetzt werden, wenn Russland mit atomaren oder anderen Massenvernichtungswaffen attackiert wird. Aber auch die Möglichkeit eines atomaren Erstschlags existiert: Wird die Existenz des Staates bedroht – also wenn zivile oder militärische Atomanlagen attackiert werden – verfolgt Moskau die Strategie „escalate to de-escalate“. Mit einem Atomschlag soll also eine Großeskalation verhindert werden.
Wie wurde die Doktrin nun verändert?
Putin hat die Einsatzgebiete für Kernwaffen erleichtert – das fordern Hardliner schon lange. Künftig können auch Staaten nuklear bombardiert werden, die selbst keine Kernwaffen besitzen; dafür reicht die Rückendeckung von Atommächten.
Das zielt eindeutig auf die Ukraine und die Atommächte USA, Frankreich und Großbritannien. Kiew versucht seit Langem, von seinen westlichen Partnern die Erlaubnis für den Einsatz von Langstreckenwaffen zu bekommen, um Ziele tief in Russland angreifen zu können. Laut Putins Neudefinition wären die Atommächte damit direkte Konfliktpartner im Ukraine-Krieg – und somit potenzielle Ziele für einen Atomschlag.
Macht das einen Atomwaffenangriff auf die Ukraine oder gar den Westen wahrscheinlicher?
Die meisten Experten halten die Drohung für einen Bluff. Die russische Nukleardoktrin böte schon jetzt ausreichend Möglichkeiten für einen atomaren Angriff, die Begründung einer „existenziellen Bedrohung“ Russlands ist schließlich ein sehr weit gefasster Begriff – Putin hat bekanntlich auch die Invasion der Ukraine 2022 als gerechtfertigt angesehen.
Für den Osteuropa-Experten Andreas Umland ist das alles ein „Spiel“ Putins: Atomdrohungen gehören seit Kriegsbeginn zum verbalen Waffenarsenal Moskaus, das sei „rücksichtslose psychologische Kriegsführung“, analysiert er. Mündliche oder schriftliche Ankündigungen Russlands über den Einsatz von Atomwaffen seien zudem keine Vorboten tatsächlicher Aktionen. Russland-Experte Alexander Dubowy hält die Drohungen gar für „bedeutungslos“: Putin selbst sei der Einzige, der über den Einsatz von Atomwaffen entscheide, die Welt erlebe gerade wieder, wie er „scheinrote Linien“ ziehe, schreibt er.
Warum hat Putin das ausgerechnet jetzt angekündigt?
Das hat mit dem „Siegesplan“ der Ukraine zu tun, den Präsident Wolodimir Selenskij am Donnerstag seinem US-Gegenüber Joe Biden vorstellte. Damit will Kiew noch vor der US-Wahl einen Kurswechsel im Westen anschieben – dort schwindet die Unterstützung bekanntlich langsam.
Putin will Selenskijs Plan torpedieren, indem er Drohgebärden an dessen Unterstützer schickt. Kiew hingegen argumentiert, dass man zwar gerne über Frieden reden wolle, aber dass Putin nur an den Verhandlungstisch gezwungen werden könne, wenn er militärisch in die Enge getrieben worden sei. Dafür brauche die Ukraine deutlich mehr Waffen – sowie die Erlaubnis für Langstreckenwaffen-Einsätze und Sicherheitsgarantieren des Westens für den Fall, dass Russland erneut angreift, quasi eine Vorab-Abschreckung.
Beide Forderungen, sowohl die intensivierte Unterstützung als auch Zusagen für militärischen Beistand im Fall eines neuerlichen Kriegs, sind im Westen hoch umstritten. Deutschland hat bereits abgewunken, bevor Selenskij überhaupt mit dem Plan nach außen ging; in Washington ist das Außenministerium für ein Ja zu Langstreckenwaffen, das Pentagon dagegen und Präsident Biden skeptisch. Auch bei der NATO-Mitgliedschaft Kiews sind die USA mehr als zurückhaltend.
Hat Putins Ankündigung dann überhaupt Auswirkungen?
Politisch wohl kaum. EU-Außenbeauftragter Josep Borrell nannte das Ganze ein „nukleares Vabanquespiel“, viele andere Politiker kommentierten die Vorgänge gar nicht. Das eigentliche Ziel Moskaus ist aber ohnehin die Bevölkerung, die verunsichert werden soll: Seit Kriegsbeginn stoßen Putins Propagandisten immer wieder Atomdrohungen aus, teils wird ganz unverhohlen gefordert, etwa Berlin in Schutt und Asche zu legen. Taten folgten diesen Worten bisher aber nie – auch, weil ein Einsatz von Nuklearwaffen für Russland mit extrem hohen Kosten verbunden wäre, wie Dubowy sagt – es würde Russland zu einem „Pariastaat machen“, und eine konventionelle militärische Antwort des Westens sowie möglicherweise sogar jetziger Verbündeter aus dem globalen Süden wäre die Folge.
Ein atomarer Erstschlag wäre für Russland derzeit also zu risikoreich – und „nur wenig zielführend.“
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