Ukraine-Krieg: Wie Russland mit heimkehrenden Kriminellen umgehen will

Symbolbild
Zusammenfassung
- Russland bereitet sich auf die massenhafte Rückkehr von Veteranen, darunter viele begnadigte Straftäter, aus dem Ukraine-Krieg vor und sieht darin ein Risiko für Gesellschaft und politisches System.
- Der Kreml ergreift Maßnahmen wie spezielle Programme, Führungspositionen und politische Unterstützung für Veteranen, um soziale Unruhen und Kriminalität zu verhindern.
- Experten warnen vor möglichen Problemen durch psychische Belastungen und Kriminalität, da die Zahl der Ukraine-Veteranen deutlich höher ist als nach früheren Konflikten.
Für den russischen Mörder Asamat Iskalijew war der Krieg eine einmalige Chance, dem Gefängnis zu entkommen. Der 37-Jährige hatte weniger als ein Drittel einer neunjährigen Haftstrafe wegen Mordes verbüßt - er hatte seine Ehefrau im Sommer 2021 in seinem Auto erstochen, weil sie sich scheiden lassen wollte. Da wurde er von Russland im Gegenzug für seinen Einsatz in der Ukraine freigelassen und begnadigt.
Der sechsmonatige Einsatz im Kriegsgebiet minderte jedoch nicht seinen Drang nach gewaltsamer Rache an Frauen, die ihn zurückgewiesen haben. Nach seiner Rückkehr ins zivile Leben stach er im Oktober vergangenen Jahres mehr als 60 Mal auf seine Ex-Freundin in jenem Geschäft ein, in dem sie arbeitete, nachdem sie seine Avancen zurückgewiesen hatte. Im Juli wurde er für diesen brutalen Mord zu mehr als 19 Jahren Haft verurteilt.
"Mehr als 1,5 Millionen russische Männer und Frauen im Krieg"
Der Fall von Iskalijew, welcher anhand von Gerichtsakten aus der Stadt Saratow und lokalen Medienberichten über seine Verhandlungen rekonstruiert wurde, ist ein schockierendes Beispiel für die sozialen Probleme, die Russland erwarten könnten, wenn Hunderttausende Soldaten - darunter auch etliche begnadigte Sträflinge - nach dem endgültigen Ende des Krieges in ihre Heimat zurückkehren.
"Insgesamt haben bis Anfang 2025 vielleicht mehr als 1,5 Millionen russische Männer und Frauen am Krieg teilgenommen", sagt Mark Galeotti, ein britischer Russland-Experte und Autor eines Berichts über die Herausforderungen Moskaus bei der Demobilisierung für die Organisation "Global Initiative against Transnational Organized Crime".
"Da immer mehr von ihnen abrüsten und nach Hause zurückkehren, wird Russland einen Zustrom von Veteranen erleben, die unter den psychologischen Folgen des Krieges leiden."
Putin sieht potenzielles Risiko
Diese Bedenken reichen bis in die höchsten Kreise, denn Präsident Wladimir Putin betrachtet die Aussicht auf eine massenhafte Rückkehr der Armee als potenzielles Risiko, das er sorgfältig handhaben möchte, um eine Destabilisierung der Gesellschaft und des von ihm aufgebauten politischen Systems zu vermeiden, wie drei dem Kreml nahestehende Quellen gegenüber Reuters angaben. Das Ziel, so eine der Quellen, sei es, eine Wiederholung der sozialen Unruhen zu vermeiden, die nach dem Ende des Krieges der Sowjetunion in Afghanistan auftraten. Damals brachten heimkehrende Veteranen eine Welle der Organisierten Kriminalität, welche die ganzen 1990er-Jahre überschattete.
Viele, die ins zivile Leben zurückkehren, würden nie wieder so hohe Gehälter verdienen, was zu Unzufriedenheit führen werde, so dieselbe Kreml-Quelle. Ein Armeerekrut aus Moskau kann derzeit beispielsweise in seinem ersten Jahr in der Ukraine mindestens 5,2 Millionen Rubel (54.450,26 Euro) verdienen, einschließlich eines Vorausbonus von 1,9 Millionen Rubel (19.895,29 Euro) der allein fast so viel beträgt wie das durchschnittliche Jahresgehalt in der Hauptstadt.
Der Kreml, das russische Verteidigungsministerium und das Justizministerium reagierten nicht auf Anfragen bezüglich einer Stellungnahme zu den Risiken, die von den aus der Ukraine zurückkehrenden Truppen ausgehen könnten. Iskalijew, der sich in beiden Mordfällen schuldig bekannt hat und seine zweite Strafe in einer Hochsicherheitsstrafanstalt verbüßt, war für Reuters nicht erreichbar.
Strafgefangene im Kriegsgeschehen
Die Herausforderungen bei der Betreuung von heimkehrenden Veteranen sind kein ausschließlich russisches Problem. Laut dem US-Ministerium für Veteranenangelegenheiten litt beispielsweise eine "erhebliche Minderheit" der rund 2,7 Millionen Amerikaner, die in Vietnam gedient hatten, unter psychischen Problemen und Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung in das zivile Leben.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Krieg in der Ukraine und vielen anderen Konflikten besteht jedoch darin, dass beide Seiten Strafgefangene im Kriegsgeschehen eingesetzt haben. Daten des russischen Strafvollzugsdienstes und der ukrainischen Geheimdienste deuten darauf hin, dass Russland seit 2022 zwischen 120.000 und 180.000 Strafgefangene für den Kampf in der Ukraine rekrutiert hat. Die Soldaten, die bisher nach Hause zurückgekehrt sind, waren hauptsächlich Schwerverwundete oder Männer, die als zu alt für den Kampf angesehen wurden - und Strafgefangene. Aber der Großteil der Armee - Putin sprach von fast 700.000 Soldaten, die in der Ukraine kämpfen - ist immer noch dort.
Nachdem 2023 die Regeln geändert wurden, entlässt das Moskauer Verteidigungsministerium Straftäter wie Iskalijew nach sechs Monaten in der Ukraine nicht mehr in die Gesellschaft zurück. Beamte begründeten dies damit, dass es unfair sei, dass Straftäter bessere Bedingungen erhielten als normale Freiwillige. Nun müssen sie, wie reguläre Rekruten, die einen Vertrag unterzeichnen, weiterkämpfen, bis der Krieg vorbei ist.
Vjorstka, ein unabhängiges russisches Medienunternehmen, berechnete im Oktober vergangenen Jahres, dass fast 500 Zivilisten Opfer von Veteranen wurden, die aus Kämpfen in der Ukraine zurückgekehrt waren. Unter Verwendung von Open-Source-Daten hinsichtlich Kriegsverbrechen aus Medienberichten und russischen Gerichtsakten gab die Organisation an, dass mindestens 242 Menschen getötet und weitere 227 von ihnen schwer verletzt worden seien. Reuters konnte diese Zahlen nicht bestätigen.
Die russischen Behörden haben Vjorstka, dessen Sitz in Prag ist, im Dezember 2023 als ausländischen Agenten eingestuft. Sie behaupteten, das Medium habe sich gegen die Militäroperationen Moskaus in der Ukraine ausgesprochen und unzuverlässige Informationen über die russische Politik verbreitet. Vjorstka weist diese Vorwürfe zurück und erklärt, dass es Fakten rigoros überprüfe und nichts veröffentliche, dessen Richtigkeit nicht zu 100 Prozent sicher sei.
Führungspositionen für russische Veteranen
Eine zweite Quelle aus dem Umfeld des Kreml erklärte gegenüber Reuters, die russische Regierung befürchte die Auswirkungen, die eine massenhafte Rückkehr von Veteranen auf das streng kontrollierte politische System des Landes haben könnte. Putin hat bereits einen gefährlichen Vorgeschmack auf das Chaos bekommen, das die von ihm in der Ukraine entfesselten Kräfte im eigenen Land anrichten können, als der Chef der Wagner-Söldner, Jewgeni Prigoschin, im Juni 2023 eine Meuterei gegen die oberste Armeeführung anführte.
Eine dritte Quelle sagte, der Kreml habe auf Putins Geheiß daran gearbeitet, potenzielle Probleme mit einer Reihe von Maßnahmen, Programmen und Ernennungen zu bewältigen, darunter die Unterstützung von Veteranen bei der Kandidatur bei Regionalwahlen im letzten Jahr und ihre Aufstellung bei den Parlamentswahlen im nächsten Jahr.
Putin, der gesagt hat, dass "Krieger", die in der Ukraine gekämpft haben, Teil der "echten Elite" sind, hat Veteranen prestigeträchtige Karrieren versprochen. Er zeigte persönliches Interesse an dem Elite-Ausbildungsprogramm namens "The Time of Heroes", das sie auf Führungsaufgaben im zivilen Bereich vorbereiten soll.
Ein Veteran, der hochdekorierte Panzerkommandant Artur Orlow, wurde mit der Leitung der sowjetisch geprägten Jugendbewegung "Bewegung der Ersten" des Präsidenten betraut. Ein weiterer Veteran, der ehemalige Bataillonskommandant Artjom Schoga, wurde zum Sonderbeauftragten Putins in der Region Ural ernannt. Vier weitere Veteranen erhielten Posten in der Präsidialverwaltung, mindestens drei sitzen im Oberhaus des Parlaments, während andere Posten in verschiedenen Bereichen der Regionalverwaltungen erhielten.
Bei einem Kreml-Treffen mit einigen der Teilnehmer im Juni erläuterte Putin die Gründe für diesen Plan "aus tiefer Überzeugung": "Die Menschen, die sich bewusst dafür entschieden haben, ihrem Vaterland zu dienen und dadurch persönlichen Erfolg zu lukrieren, sollten nach und nach bestimmte Positionen einnehmen", sagte er.
"Afgantsy" und "Ukraintsy"
Die Meinungen über die Gültigkeit von Vergleichen mit der Situation in den 1990er-Jahren gehen auseinander. Viele der damals heimgekehrten Veteranen, die als "Afgantsy" bezeichnet wurden, litten unter posttraumatischen Belastungsstörungen, einige griffen zu Drogen und Alkohol, um über damit leben zu können. Sie hatten Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft und trugen zu steigender Kriminalität bei.
Schoga, dessen Sohn in der Ukraine getötet wurde, sagte, dass die Ukraine-Veteranen, die bereits als "Ukraintsy" bezeichnet werden, dank der Bemühungen des Staates jene Probleme, mit denen die Afghanistan-Veteranen zu kämpfen hatten, vermeiden können.
Diese Ansicht teilte auch eine weitere Quelle aus dem Umfeld des Kreml, die erklärte, dass auf das Ende des Afghanistankriegs 1989 zwei Jahre später der Zusammenbruch der Sowjetunion folgte, wodurch ein Macht- und Sicherheitsvakuum entstand. Heute sei die Situation anders, da das politische System und die Strafverfolgung stärker seien, sagte die Quelle, die einräumte, dass Strafgefangene eine besondere Kategorie darstellten, die naturgemäß ein hohes Risiko darstellten.
Andere Informanten argumentieren, dass die Rückkehr der Ukraine-Veteranen ein ernsthafteres Problem darstellen könnte als die "Afgantsy" seinerzeit. Gregory Feifer, Autor des Buches "The Great Gamble", das von der sowjetischen Invasion in Afghanistan handelt, erklärte gegenüber Reuters, dass der Krieg in der Ukraine zu einem weitaus blutigeren Konflikt geworden sei als der in Afghanistan, wo die offiziellen sowjetischen Verluste bei etwa 15.000 Soldaten lagen. "Die Zahlen sind jetzt viel, viel höher", sagte Feifer, Geschäftsführer des Institute of Current World Affairs in Washington. "Wir sprechen hier von einem viel erbitterteren Konflikt."
Galeotti, Autor des Berichts über die Herausforderungen der Demobilisierung, sagte, er glaube nicht, dass die Probleme der heimkehrenden Veteranen "das Ausmaß der wilden 90er-Jahre" erreichen würden."Aber angesichts der Tatsache, dass es im Verhältnis zur Bevölkerung so viel mehr 'Ukraintsy' als 'Afgantsy' gibt, befürchte ich tatsächlich eine Zeit der Unruhen."
(Von Pravin Char/Reuters)
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