Ehrlicher Rückzug
„Die Russen haben meiner Meinung nach nicht versucht, die Ukrainer zu locken“, sagt Reisner. Schoigus und Surowikins Fernsehauftritt sei aus seiner Sicht „ein Versuch, den Rückzug der eigenen Bevölkerung gegenüber als sinnvoll zu verkaufen“. Der Kreml zeige damit Angehörigen zu Hause, dass man auf die eigenen Soldaten aufpasse.
Reisners Einschätzung deckt sich mit einem Bericht des US-Generalstabschefs Mark Milley: Das Pentagon gehe davon aus, dass es die russische Armee mit ihrem Rückzug ernst meine. Aufgrund vieler beschädigter Brücken könne es aber noch Wochen dauern, bis sich die Truppen vollständig auf das gegenüberliegende Ufer des Dnepr zurückgezogen haben.
Als erster westlicher Militär bezifferte Milley die Zahl der Todesopfer auf beiden Seiten ähnlich hoch – nämlich auf je knapp 100.000. Angesichts dessen sei es logisch, so Reisner, dass beide Seiten eine weitestgehende Gefechtspause in den Wintermonaten anstreben und alles daran setzen, sich davor noch in eine strategisch gute Ausgangsposition zu bringen.
Schlammzeit naht: Winter legt Offensiven auf Eis
Vor allem, da die für die Region typische Schlammzeit naht, auf Russisch „Rasputiza“ genannt. „Vor allem in Cherson ist das Gebiet um diese Jahreszeit in Wasser getränkt und sehr schlammig. Das macht das Vorrücken enorm schwierig“, sagt Reisner. „Danach kommt der Winter. Der Boden gefriert, es wird extrem kalt. Das nächste Zeitfenster für größere Truppenbewegungen wäre also erst Ende Jänner, Anfang Februar.“
Die Ukraine hat im Kampf um gute Positionen mit der bevorstehenden Einnahme Chersons einen gewaltigen Erfolg erzielt. „Die Stadt kann als Winterquartier dienen“, so Reisner.
Russland werde über den Winter versuchen, das Südufer des Dnepr durch Verteidigungsanlagen abzusichern und die eigenen Truppen mithilfe der eingezogenen Reservisten neu zu formieren. Damit wäre es möglich, im Frühjahr einen erneuten Vorstoß in der Provinz Donezk zu wagen. Sollte es gelingen, den gesamten Donbass unter russische Kontrolle zu bringen, „könnte man dem russischen Volk glaubhaft vermitteln, einen Teil der eigenen Kriegsziele erreicht zu haben“, so Reisner. Das könnte aus russischer Sicht den Weg für Friedensverhandlungen ebnen.
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