Korruptionsskandal stürzt Türkei in Krise
Der wegen eines Korruptionsskandals massiv unter Druck geratene türkische Ministerpräsident Recepp Tayyip Erdogan versucht mit einer umfassenden Regierungsumbildung den Befreiungsschlag. Erdogan übermittelte Präsident Abdullah Gül am Mittwoch Abend eine Liste mit zehn neuen Ministern. Demnach müssen so prominente Minister wie jener für Justiz oder der einflussreiche EU-Minister Egemen Bagis den Hut nehmen. Bagis war der einzige von vier unter Korruptionsverdacht stehenden Ministern, der nicht selber zurückgetreten war.
Zuvor waren bereits drei Minister nach Korruptionsermittlungen gegen ihre Söhne zurückgetreten. Wirtschaftsminister Zafer Caglayan und Innenminister Muammer Güler legten am Mittwoch ihre Ämter nieder. Umweltminister Erdogan Bayraktar folgte kurz darauf. Er forderte im TV-Sender ntv auch Erdogan zum Rücktritt auf.
Die Söhne von allen drei Ministern waren im Zuge der Ermittlungen zur Korruptionsaffäre ins Visier der Justiz geraten. Während die Söhne von Caglayan und Güler in Untersuchungshaft genommen wurden, wurde der Sohn von Umweltminister Bayraktar nach einer Befragung wieder laufen gelassen. Insgesamt wurden in der Affäre um die staatliche Halkbank 24 Menschen festgenommen, darunter der Bankchef Süleyman Aslan.
Illegale Goldgeschäfte
Den Festgenommenen wird vorgeworfen, einem kriminellen Ring angehört zu haben, der die Bestechung von Politikern organisiert haben soll, um illegale Goldgeschäfte der Halkbank mit dem Iran zu vertuschen. Die Affäre reicht weit in die politische und wirtschaftliche Elite hinein. So sind unter den Verdächtigen der Bürgermeister des konservativen Istanbuler Stadtteils Fatih, Mustafa Demir, und der bekannte Bauunternehmer Ali Agaoglu.
Er trete zurück, "damit diese unwürdige Operation gegen unsere Regierung aufgeklärt werden kann", erklärte Caglayan am Mittwoch. "Die am 17. Dezember gestartete Operation ist eindeutig eine schändliche Verschwörung gegen unsere Regierung, unsere Partei und unser Land." Güler dagegen erklärte lediglich, er habe bereits am 17. Dezember seinen Rücktritt angekündigt und habe nun sein schriftliches Rücktrittsgesuch eingereicht.
Druck
Bayraktar sagte ntv in einem Telefonat, er könne alle von den Ermittlern gegen ihn erhobenen Vorwürfe aufklären und habe ohnehin meist auf Anweisung des Ministerpräsidenten gehandelt. Auf ihn sei Druck ausgeübt worden, zurückzutreten und eine Erklärung abzugeben. Er deutete an, dass diese Erklärung die Regierung entlasten sollte. Ein Großteil der von ihm verantworteten Bauprojekte, die in der Affäre ins Visier der Ermittler geraten sind, sei mit der Zustimmung des Ministerpräsidenten entstanden. In dem Telefonat forderte er Erdogan ebenfalls zum Amtsverzicht auf.
Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach den Rücktritten sagte Regierungschef Erdogan, seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) werde Korruption nicht dulden. Sollte sie es dennoch tun, hätte sie ihren Daseinszweck verloren, sagte er auf einer Parteiversammlung in Ankara.
Bereits vor Tagen war in türkischen Medien über eine bevorstehende Kabinettsumbildung berichtet worden. Am Dienstag hatte auch Präsident Abdullah Gül angekündigt, dass Erdogan bei seiner Rückkehr von einer Reise nach Pakistan sein Kabinett umbilden werde. Nach seiner Rückkehr nach Ankara berief der Regierungschef in der Nacht auf Mittwoch noch eine Kabinettssitzung ein, an der auch Güler teilnahm, wie örtliche Medien berichteten.
Swoboda bringt sich ein
Auch der Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament, Hannes Swoboda, hat dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan den Rücktritt nahegelegt. "Vielleicht braucht die Türkei einen neuen Premierminister", teilte Swoboda am Christtag über Twitter mit. Der neue Premier solle "weniger autokratisch und dialogbereiter" sein.
Erdogan sei nach dem Rücktritt von drei Ministern wegen der Korruptionsaffäre um seine konservativ-islamische Regierung "in Schwierigkeiten", konstatierte der SPÖ-Politiker.
Machtprobe
Die Affäre ist zu einer Machtprobe der Regierung mit Justiz und Polizei geworden, denen Erdogan vorwirft, die Affäre inszeniert zu haben, um seiner Regierung zu schaden. Erdogan entließ im Zuge der Ermittlungen dutzende Polizeichefs. Hinter der Affäre steckt offenbar ein Machtkampf zwischen Erdogan und den Anhängern des extrem einflussreichen islamischen Predigers Fetullah Gülen, die besonders zahlreich sind in Justiz und Polizei.
Mitauslöser des Konflikts waren Pläne der Regierung, ein Netzwerk von Schulen der Gülen-Bewegung zu schließen. Die landesweite Bewegung hat bisher Erdogans AKP bei den Wahlen stets unterstützt. Der Streit könnte bei den Ende März anstehenden Kommunalwahlen, die als wichtiger Stimmungstest für die ohnehin angeschlagene AKP gelten, zu einer Machtverschiebung führen.
Ausschreitungen
In Istanbul kam es am Dienstag erneut zu regierungskritischen Protesten. Augenzeugen berichteten, die Polizei habe in der Innenstadt Tränengas und Plastikgeschoße gegen Demonstranten eingesetzt.
Opposition schäumt
Die türkische Opposition wirft Ministerpräsident Erdogan vor, mit dem Kabinettsumbau konspirative Ziele zu verfolgen. Erdogan wolle im Kampf um den Machterhalt eine Art Staat im Staate schaffen, sagte der Chef der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, türkischen Medien zufolge am Donnerstag. Der Politiker sprach von einem "tiefen Staat" ("Derin Devlet"), was in der Türkei ein negatives Schlagwort für den Einfluss von Drahtziehern im Hintergrund ist.
Oppositionsführer Kilicdaroglu warf Erdogan vor, sich ein Kabinett aus gefügigen Ministern schaffen zu wollen. Diese seien Teil von Erdogans Machtstrukturen, mit denen er das Land ohne demokratische Kontrolle regieren wolle. Eine zentrale Rolle darin spiele der neu ernannte Innenminister Efkan Ala. Der frühere Gouverneur der Provinz Diyarbakir ist als einziger in Erdogans Kabinett kein Parlamentsabgeordneter und damit nicht direkt dem Wählerwillen verpflichtet. Politischen Beobachtern zufolge hatte sich Ala in seiner bisherigen Position als Regierungsstaatssekretär dafür eingesetzt, massiv gegen Anti-Erdogan-Proteste in diesem Sommer vorzugehen.
Bei seiner Amtseinführung deutete Ala am Donnerstag an, die Korruptionsermittlungen könnten aus dem Ausland gesteuert worden sein. Nachbarn der Türkei könnten eifersüchtig auf den Erfolg des Landes reagieren, sagte Ala. Die auch wirtschaftlich erstarkte Türkei strebt vor allem mit Blick auf den Nahen Osten eine zentrale Position in der internationalen Diplomatie an.
90 Jahre Türkische Republik:
Die Türkei wird seit über einer Woche von einem Korruptionsskandal erschüttert, der sich zur Regierungskrise ausgewachsen hat. Eine Chronologie:
- 17. Dezember: Im Morgengrauen kommt es zu Großrazzien der Polizei in Istanbul und Ankara. Dutzende Menschen werden unter Korruptionsverdacht festgenommen, darunter auch drei Ministersöhne. Die Ermittlungen vor den Razzien dauerten über ein Jahr lang an, ohne dass die Regierung davon Kenntnis hatte.
- 18. Dezember: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nennt die Ermittlungen eine "sehr dreckige Operation" gegen seine Regierung. Die Regierung beginnt damit, Polizisten zu versetzen, die mit den Ermittlungen befasst sind.
- 19. Dezember: Der Polizeichefs Istanbuls wird seines Postens enthoben und durch den Gouverneur der Provinz Aksaray ersetzt. Die Amtsenthebungen gehen in den folgenden Tagen weiter.
- 20. Dezember: Der mächtige Prediger Fethullah Gülen weist Verdächtigungen zurück, seine Bewegung könnte hinter den Ermittlungen stecken, um Erdogan zu schaden.
- 21. Dezember: Ein Gericht verhängt Untersuchungshaft gegen den Sohn von Wirtschaftsminister Zafer Caglayan, den Sohn von Innenminister Muammer Güler und gegen 22 weitere Verdächtige. Der Sohn von Umweltminister Erdogan Bayraktar wird unter Auflagen freigelassen.
- 21. Dezember: Der Skandal belastet das Verhältnis mit den USA. Regierungsnahe Zeitungen werfen US-Botschafter Francis Ricciardone vor, EU-Kollegen "den Sturz eines Imperiums" angekündigt zu haben. Ricciardone dementiert. Erdogan droht ungenannten Botschaftern: "Wir sind nicht gezwungen, Sie in unserem Land zu lassen."
- 21. Dezember: Polizisten müssen ab sofort ihre Vorgesetzten über Ermittlungen informieren.
- 22. Dezember: Journalisten wird landesweit der freie Zutritt zu Polizeidienststellen untersagt.
- 25. Dezember: Innerhalb weniger Stunden erklären Wirtschaftsminister Caglayan, Innenminister Güler und Umweltminister Bayraktar ihren Rücktritt. Caglayan spricht von einem "dreckigen Komplott gegen unsere Regierung, unsere Partei und unser Land".
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