Wo die Briefträger Sozialarbeiter sind

Spaziergänger an der Strandpromenade in Ostende: Fast zehn Prozent der Einwohner sind über 80.
Die belgische Post kümmert sich im Küstenort Ostende im Auftrag der Stadt um die Über-80-Jährigen.

Eric stellt sein Postrad an den Rand des Gehsteigs, überprüft noch einmal seine Liste mit Namen und Adressen, dann geht er zur Gegensprechanlage, klingelt bei Smits. "Guten Tag, hier ist der Briefträger. Ich würde gerne kurz rauf kommen und Ihnen ein paar Fragen stellen." Frau Smits zögert. Eric legt nach: "Sie sollten letzte Woche einen Brief vom Sozialamt bekommen haben, der meinen Besuch ankündigt." Frau Smits weiß nichts von dem Brief, hat nun aber mitbekommen, wer klingelt: "Der Briefträger? Gut, kommen Sie rein."

Das gefühlte Alter Ostendes variiert mit den Jahreszeiten: Jung und lebendig, wenn im Sommer Familien die Bettenburgen am Strand bevölkern, Teens und Twens in der Sonne den Schlaf der vorigen Nacht nachholen. Alt und müde, wenn im Winter Ferienwohnungen leer stehen und auf der Promenade nur wenige Spaziergänger dem Wetter trotzen.

Eine alte Stadt

Das statistische Alter Ostendes ist ganzjährig hoch: 6000 der 70.000 Einwohner sind über 80. So wie Frau Smits, die eigentlich nicht Smits heißt, bekommen sie nun Besuch von der Post.

Ostendes Briefträger machen, wofür Ostendes Sozialarbeiter zu wenig Zeit und Geld haben: Sie klappern die Über-80-Jährigen ab; schauen, ob sie alleine gut zurechtkommen bzw. von der Familie versorgt werden; fragen, ob sie Hilfe brauchen, wissen, wo sie welche bekommen.

Eric sitzt bei Frau Smits im Wohnzimmer, er hat seinen Radhelm abgenommen und erklärt, wozu er hier ist. Frau Smits ist einverstanden, den Fragebogen durchzugehen.

"Wie oft gehen Sie raus?" – "Kommen Verwandte oder Freunde zu Besuch?" – "Haben Sie jemanden, der Sie anruft?" – "Gibt es jemanden, den Sie im Notfall kontaktieren können?" – "Haben Sie eine Putzfrau oder Pflegerin?"

Sind die Vorhänge zu?

Eric trägt Frau Smits’ Antworten ein, schreibt ihr in großen Ziffern die Telefonnummer des Sozialamts auf. Vor der Tür füllt er den zweiten, den "Beobachtungsteil" aus: Wirken Wohnung und Bewohner gepflegt? Geht der Postkasten über? Sind die Vorhänge untertags zugezogen? Auf Basis von Frau Smits’ Antworten und Erics Beobachtungen wird das Sozialamt abwägen, ob man einen Sozialarbeiter sofort, bei Gelegenheit oder erst einmal gar nicht vorbeischickt.

Wo die Briefträger Sozialarbeiter sind
Reportage Ostende, Briefträger als Sozialarbeiter
Dass die Post das Sozialamt bei der Arbeit unterstützt, ist weniger altruistischen Beweggründen denn ökonomischen Notwendigkeiten geschuldet: "Die Menschen verschicken immer weniger Briefe, also müssen wir uns überlegen, welchen Dienst wir sonst noch anbieten können", sagt Clara Swinnen, die das Ostender Pilotprojekt managt. "Unser Kapital ist, dass wir jeden Tag an jedem Haus vorbeikommen – das wollen wir nutzen."

Anderswo helfen die Briefträger probeweise bei der Suche nach gestohlenen Fahrrädern; oder sie sammeln Daten für Banken und Versicherungen ein. Und in Ostende kümmert man sich um die Zielgruppe 80plus.

In Plauderlaune

"Unsere Briefträger sind keine echten Sozialarbeiter, wir vermitteln die Information zwischen den Menschen und dem Sozialamt", sagt Swinnen. Die Postler wurden für die Hausbesuche geschult; auch, wie Swinnen sagt, um ein Gespräch "höflich, aber bestimmt" beenden zu können, sollte ein einsamer Senior in Plauderlaune sein.

Wo die Briefträger Sozialarbeiter sind
Reportage Ostende, Briefträger als Sozialarbeiter
Eric hat einige Besuche hinter sich, die meisten, sagt er, würden nicht länger als fünf, sechs Minuten dauern. Sein nächster, im Nachbarhaus von Frau Smits, ist besonders schnell erledigt: Frau Arts, die auch anders heißt, sitzt zwar im halb abgedunkelten, stark verrauchten Zimmer, aber sie sitzt dort mit zwei Töchtern. Das macht den Fragebogen zur Formsache, Frau Arts ist offensichtlich gut versorgt.

Eric ist wieder an der frischen Luft, macht die Papiere zum Besuch bei Frau Arts fertig, setzt seinen Radhelm auf. "Es ist eine gute Sache, dass wir schauen, ob es den Alten gut geht", sagt er. "Nur dass wir dafür eigens ein Projekt brauchen, ist für mich etwas seltsam. Früher, vor zehn, fünfzehn Jahren, hatte ich noch genug Zeit, um einfach so nach den Menschen auf meiner Route zu sehen."

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