Obama will Grenzen der Macht ausloten

Der US-Präsident gibt sich in seiner jährlichen Rede als Kämpfer für Amerikas sozial Schwache.

Die Jubelrufe, der immer wieder aufbrandende Applaus, seine eigene kämpferische Rhetorik: Es war Barack Obama anzumerken, wie sehr er das alles genoss. Der Präsident nützte die alljährliche Rede zur Lage der Nation, um sich vor den beiden Häusern des US-Kongresses in seiner Lieblingsdisziplin zu üben, jener, die ihn einst nicht nur zum Staatschef, sondern auch zum Idol für viele gemacht hatte: die große programmatische Rede mit Blick in die Zukunft. „Ein Jahr des Handelns“ soll das eben angebrochene werden, mit einem Hauptziel: „Amerika gerechter zu machen“.

Es ist vielleicht die letzte Chance, die der Präsident hat, um die USA zumindest noch ein Stück in jene Richtung zu verrücken, in die er sie einst führen wollte. Im Herbst stehen Kongresswahlen an, und es droht eine Niederlage im derzeit noch von seinen Demokraten kontrollierten Senat. Seine letzten zwei Jahre würde er dann als „lahme Ente“ verbringen, blockiert vom Kongress in Washington, in dem dann beide Häuser von Republikanern dominiert würden.

Doch auch die bisherige Machtverteilung hat der Präsident kaum für seine Politik zu nützen gewusst. 2013 hat er pausenlos in der politischen Defensive verbracht, egal ob beim Budget, das immer nur mit Notlösungen gerettet werden konnte, bei Einwanderungs- und Waffengesetzen oder in der Affäre um den Geheimdienst NSA.

Gegen den Kongress

Jetzt aber will Obama auf Angriff umschalten, und zwar mit allen Mitteln, die ihm zu Verfügung stehen. Er werde, drohte er den Abgeordneten offen, „wo und wann immer möglich ohne Ihre Gesetzgebung die nötigen Schritte unternehmen.“

Große Schritte aber sind das, nüchtern betrachtet, nicht. Den von ihm angepeilten Mindestlohn von 10 US-Dollar pro Stunde, der im Kongress seit Jahren blockiert wird, will er jetzt mit einer präsidentiellen Verordnung durchsetzen. Die aber ist nur für Firmen bindend, die öffentliche Aufträge bekommen. Das Gleiche gilt für die jetzt erneut angekündigten strengeren Regelungen für den Kohlendioxid-Ausstoß von Fabriken. Auch da hat das Diktat des Weißen Hauses enge Grenzen. Eine Verschärfung der Sanktionen gegen den Iran, für die sich im Kongress eine Mehrheit abzeichnet, will Obama mit seinem Veto blockieren.Während die Republikaner sofort nach der Rede auf die Barrikaden gingen und über „imperiale Präsidentschaft“ oder „Bedrohung der Freiheit“ wetterten, überwiegt auch in der eigenen Partei die Skepsis über die angekündigten Alleingänge des Präsidenten. „Es ist nicht die Lösung, die wir anstreben“, meint ein demokratischer Abgeordneter gegenüber der New York Times, „aber er versucht so, dem Kongress eine Botschaft zu senden.“

Es habe ihn wirklich überrascht, wie wenig Macht ein US-Präsident eigentlich habe, hat George W. Bush gegen Ende seiner Präsidentschaft eingestanden. Da hatte er allerdings schon die ganze westliche Welt für seinen Krieg gegen den Terror in Geiselhaft genommen. Einen Weg, den sein Nachfolger konsequent fortgesetzt hat, vom Drohnenkrieg bis zu den jetzt aufgedeckten Operationen des Geheimdiensts NSA. Krieg und Militäroperationen, egal in welchem Winkel der Erde, sind traditionell das einzige Spielfeld, auf dem US-Präsidenten tatsächlich die Regeln diktieren. Zu Hause sind sie nur Teil einer ausgeklügelten Balance der Kräfte. Um erfolgreich Politik zu machen, müssen sie mit dieser Balance umzugehen wissen. Obama hat dabei seit Amtsantritt schlechte Figur gemacht.

Man kann dafür die Vorurteile und die unverhohlene Ablehnung verantwortlich machen, mit denen das rechte Amerika dem ersten schwarzen Präsidenten bis heute begegnet. Tatsächlich aber muss man es ihm selbst anlasten. Der blendende Redner kann seine Ideen zwar virtuos formulieren, in der Realpolitik Washingtons, die mehr denn je ein Spiel von Geben und Nehmen ist, kam er damit nie weiter. Und wenn er sich, wie etwa bei der Gesundheitsreform, auf dieses Geben und Nehmen einließ, zogen ihn seine Gegner mitleidlos über den Tisch, nur um ihn bei nächster Gelegenheit wieder anrennen zu lassen. Eine Trotzreaktion wie jetzt zeigt der Präsident nicht zum ersten Mal. Geholfen hat auch das nie – außer den Republikanern. Dass die sich, geschwächt und gespalten wie seit Jahrzehnten nicht, im politischen Spiel halten können, haben sie vor allem ihrem Gegner im Weißen Haus zu verdanken.

China "China ist nicht mehr der beste Platz der Welt zum Investieren. Amerika ist es."

Mindestlohn "Lasst uns dies zu einem Jahr des Handelns machen. Das ist es, was die meisten Amerikaner wollen - dass wir alle in diesem Hause uns auf ihre Leben fokussieren, ihre Hoffnungen, ihre Sehnsüchte."

"Und ich glaube, was die Menschen dieser Nation vereint, unabhängig von Rasse oder Region oder Partei, jung oder alt, reich oder arm, ist der einfache, tief greifende Glaube an Chancen für alle - die Auffassung, dass Du vorankommen kannst, wenn Du hart arbeitest und Verantwortung übernimmst."

"Seien wir ehrlich: Dieser Glaube hat schwere Schläge eingesteckt. Über mehr als drei Jahrzehnte, sogar noch vor der großen Rezession, haben massive technologische Veränderungen und weltweiter Wettbewerb viele gute Arbeitsplätze für die Mittelschicht vernichtet und das ökonomische Fundament geschwächt, von dem Familien abhängen."

"Denen an der Spitze geht es besser als kaum je zuvor. Aber die Durchschnittslöhne haben kaum angezogen. Die Ungleichheit hat zugenommen. Aufstiegschancen stagnieren."

"Aber Amerika steht nicht still - und das werde ich auch nicht."

Umwelt "Der Klimawandel ist ein Fakt."

"Wenn unsere Kinder uns in die Augen schauen und fragen, ob wir alles getan haben, was wir konnten, um ihnen eine sichere, stabilere Welt zu hinterlassen, mit neuen Energiequellen, dann will ich, dass wir sagen können, ja, haben wir."

Militär "Wenn man für unsere Soldaten kocht oder ihre Teller abwäscht, dann sollte man nicht in Armut leben müssen."

Mindestlohn "Sagen Sie ja. Geben Sie Amerika eine Lohnerhöhung."

Iran "Wenn John F. Kennedy und Ronald Reagan mit der Sowjetunion verhandeln konnten, dann kann ein starkes und selbstbewusstes Amerika heute sicher mit schwächeren Gegnern verhandeln."

Die Rede zur Lage der Nation ist nicht nur eine Gelegenheit, die politische Wunschliste zu formulieren. Sie ist auch eine Chance, um das Terrain für den Kongresswahlkampf im November abzustecken. Denn nach dem vergangenen Jahr, in dem das Patt zwischen Republikanern und Demokraten zum Stillstand führte, muss Obama Handlungsfähigkeit zeigen. Die Umfragen prophezeien ein Debakel für die Demokraten im Senat, der Präsident könnte endgültig zur „lahmen Ente“ werden. Deshalb die Ankündigung aus dem Weißen Haus, notfalls auch am Kongress vorbei zu handeln.

Denn 2014 muss Obama wirtschaftlich etwas weiterbringen – vor allem die Kluft zwischen Arm und Reich verringern. Denn der Amerikanische Traum ist für viele längst zur Illusion geworden. Das zeigt eine neue Studie zweier US-Soziologen – Prof. Thomas Hirschl von der Elite-Universität Cornell und Prof. Mark Rank von der Washington Universität in St. Louis. Sie haben 30 Jahre lang über Armut und Einkommensungleichheit in den USA geforscht und berichten dem KURIER von ihrem neuen Buch „Chasing the American Dream“ („Auf der Suche nach dem Amerikanischen Traum“), das im April herauskommt.

KURIER: Vor 50 Jahren erklärte US-Präsident Johnson der Armut in den USA den Krieg. Was hat sich seitdem geändert?

Mark Rank: Bis zu den frühen 1970er-Jahren ist die Armutsrate um die Hälfte reduziert worden. Von da an blieb alles gleich – 11 bis 15 Prozent der Bevölkerung sind arm. Die US-Wirtschaft schafft mehr Jobs mit niedrigen Löhnen und ohne Sozialleistungen. Es ist schwieriger, den Lebensunterhalt mit solchen Jobs zu bestreiten. Ein anderes Problem war, dass Johnson zwar der Armut den Krieg erklärte, der Krieg in Vietnam aber viele Ressourcen verbraucht hatte.

Obama will Grenzen der Macht ausloten
us-soziologe
Thomas Hirschl:Ein interessanter Punkt dieses „Krieges gegen die Armut“ ist die Geschichte von Martin Luther King. Kurz bevor er ermordet wurde, ging er nach Marks, einer kleinen Stadt in Mississippi. Dort besuchte er eine Schule, die nur ein Zimmer hatte mit acht Schülern und einem Lehrer. King kam zur Essenszeit, aber keiner in der Schule hatte etwas zum Essen. Der Lehrer hatte nur einen Apfel. Den teilte er in zehn Stücke und gab jedem Kind eines. Das war eine der Erfahrungen, die King inspirierten, seine Armutsbewegung zu gründen.Heute gibt die Regierung Milliarden für die Armen aus, doch das Land ist in vieler Hinsicht schlimmer dran als damals. In jenen Jahren gab es in Mississippi Armut wegen der technologischen Veränderungen in der Landwirtschaft. Heute sehen wir enorme Kürzungen bei den Industriejobs, und das Beispiel dafür ist Detroit. Das Geld, das man für den Krieg gegen die Armut vorgesehen hatte, ist immer noch da, es reicht aber nicht. Wir haben noch 46 Millionen Arme.

Im Buch untersuchen Sie die „wirtschaftliche Unsicherheit“. Was heißt das?

Rank: Wir sehen uns an, ob man unter 150 Prozent der Armutsgrenze rutscht, ob man sich von Regierungsprogrammen für sozial Schwache helfen lässt, oder ob jemand im Haushalt den Job verliert. Wenn eines dieser drei Ereignisse eintritt, nennen wir es „wirtschaftliche Unsicherheit.“ Was wir dadurch herausgefunden haben, ist, dass 79 Prozent der Amerikaner im Alter von 25 bis 60 Jahren in ihrem Leben eines dieser drei Ereignisse ein Jahr lang erleben. Das heißt, fast vier von fünf Amerikanern werden selbst eine starke wirtschaftliche Unsicherheit spüren.

Gibt es den „Amerikanischen Traum“ noch?

Hirschl: Der Titel unseres Buches lautet „Auf der Suche nach dem Amerikanischen Traum“, das heißt, wir haben ihn noch nicht erreicht.

Warum spricht man heute in den USA so oft über Armut und Einkommensungleichheit?

Obama will Grenzen der Macht ausloten
us-soziologe
Rank:Wenn man in einer Gesellschaft immer mehr Einkommensungleichheit hat, dreht sich der demokratische Prozess. Wenn jene, die erhebliche Ressourcen haben, diese im politischen Prozess einsetzen, ist das nicht gut für eine Demokratie. Je größer die Ungleichheit in der Gesellschaft, desto ungesünder ist sie.

Hirschl: Die Amerikaner denken gern positiv über die Zukunft, und jetzt fühlen sie keinen Optimismus für ihre Kinder. Das ist eine echte soziale Krise.

Kommentare