Rainer Münz: Der unaufgeregte Migrations-Erklärer
Die Frage, an welchem Projekt er gerade arbeite, beantwortet der Bevölkerungsexperte Rainer Münz mit einer Gegenfrage. „Was schätzen Sie: Wie viele Menschen kommen jedes Jahr auf legalem Weg nach Europa?“ Also keine Touristen, nur Zuwanderer mit Arbeitserlaubnis, nachgeholte Familienangehörige, Studenten und Menschen, deren Asylansuchen angenommen wurden.
Die richtige Antwort lautet:
„Zwischen 1,5 und zwei Millionen Menschen.“
Das aber weiß kaum jemand. Denn die einzigen Zahlen, die aus dem Munde europäischer Politiker ständig zu hören sind, beziehen sich auf die illegalen Ankünfte in Europa – heuer rund 100.000. Also nicht einmal ein Zehntel der regulären Ankünfte.
Aber „gut“ oder „schlecht“, „falsch“ oder „richtig“ – Eigenschaftsworte wird man von Rainer Münz nicht hören, wenn sich das Gespräch um Migration dreht. Dem renommierten Bevölkerungswissenschaftler aus Österreich geht es darum, Fakten zu sammeln und zu analysieren, Wanderungs-Trends aufzuspüren und Empfehlungen abzugeben.
In Junckers Berater-Team
Der Chef der EU-Kommission hatte Münz vor fast vier Jahren als einzigen Österreicher in sein Berater-Team nach Brüssel geholt. Diese rund 30 Experten und Spitzenwissenschaftler des „Europäischen Zentrums für Politische Strategie“ (EPSC) sollen über mittel- und langfristige Trends nachdenken, die Europa bevorstehen könnten. Migration, der Arbeitsbereich von Rainer Münz, ist dabei wohl das emotional aufgeladenste Thema.
„Wenn jetzt um 95 Prozent weniger Flüchtlinge über die Türkei nach Europa kommen als im Krisenjahr 2015, müssen wir sagen, dass uns da etwas gelungen ist. Dasselbe gilt für die Route von Libyen nach Italien“, sagt der Migrationsexperte. Und doch, so gesteht Münz ein, „wird dieser Rückgang von der Bevölkerung nicht als ausreichend oder beruhigend wahrgenommen.“
Auch bei der Zuwanderung aus Afrika stellt der studierte Demograf, Universitätsprofessor und Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen klar: „In den vergangenen zehn Jahren hat die Migration aus Afrika im Durchschnitt nicht zugenommen.“ Sie hat sich allerdings verändert. Von früher mehr legaler Arbeitsmigration, vor allem aus den nordafrikanischen Ländern, hin zu jetzt mehr illegaler Arbeitsmigration vor allem aus Nigeria, Guinea, der Elfenbeinküste und zuletzt auch aus Tunesien.
Sinkende legale Zuwanderung von Arbeitskräften
Das verdeckt den Blick auf eine andere Entwicklung: Generell sei die legale Zuwanderung von Arbeitskräften in Europa „konstant weniger geworden“, gibt Münz zu bedenken. Vor einem Jahrzehnt kamen jährlich etwa eine halbe Million. Heute sind es nur noch rund 200.000 legale Arbeitskräfte pro Jahr, die länger als 12 Monate bleiben. Eine Ursache dafür ist auch: „Wir in Europa sind im Verhältnis zu den USA, Kanada oder Australien weniger attraktiv für hochqualifizierte Zuwanderer. Aber Europa ist weiterhin attraktiv für gering qualifizierte Arbeitskräfte.“
Den größten Teil der legalen Zuwanderer macht derzeit der Familiennachzug aus: rund 600.000 Menschen pro Jahr. Überwiegend handelt es sich dabei um junge Erwachsene, die nach der Eheschließung mit einem in der EU lebenden Partner bzw. einer Partnerin einwandern. Für den neutral beobachtenden Wissenschaftler steht dabei fest: Viele dieser neu ankommenden Ehepartner sprechen die Sprache des neuen Heimatlandes nicht. Deshalb kann es Jahre dauern, bis sie sich bei uns in den Arbeitsmarkt integrieren können.
Die Expertise des 65-jährigen Bevölkerungswissenschaftlers ist in Brüssel viel gefragt. Er nennt unterschiedliche Szenarien für die Zukunft: Ohne migrationspolitische Weichenstellungen müssen die EU-Staaten weiter machen wie bisher und im Einzelfall auf größere Zuwanderung bei Krisen, Kriegen oder Klima-Katastrophen reagieren. Teile der EU könnten sich in Richtung einer Arbeitsmarkt-orientierten Zuwanderung bewegen. „Andere werden beschließen, ähnlich wie Japan, lieber unter sich zu bleiben und an Einwohnerzahl zu schrumpfen.“
Zugleich konfrontiert Rainer Münz seine Gesprächspartner auch immer wieder mit der Tatsache, dass weit verbreitete Schwarzarbeit in Europa die illegale Zuwanderung fördert. Das reicht von der Landwirtschaft über die Altenpflege bis zur Kinderbetreuung – „in vielen EU-Staaten hat sich ein Schwarzarbeitsmarkt etabliert“, schildert Münz. „Nur auf unseren Baustellen wird streng kontrolliert, weil es dort eine Konkurrenz zwischen inländischen und ausländischen Arbeitskräften gibt.“ Aber von den nicht angemeldeten Putzfrauen in Europas Großstädten bis zu den illegal arbeitenden Ernte-Helfern im Süden der EU reicht eine Schattenwirtschaft, „die Nachfrage nach illegaler Zuwanderung schafft“, gibt der österreichische Experte zu bedenken.
Er hätte noch so viel zu sagen, über das rasante Bevölkerungswachstum in Afrika. Oder über jene halbe Million Menschen, die jährlich ohne legale Aufenthaltstitel in der EU aufgegriffen werden. Und über die Probleme, sie in ihre Heimatländer zurückzubringen. Doch die Zeit drängt. Im 12. Stock des Brüsseler Berlaymont-Gebäudes, wo Kommissionspräsident Juncker und alle Kommissarinnen und Kommissare ihre Büros haben, wartet noch ein Berg Arbeit. Alles sollte rechtzeitig erledigt sein, wenn er am Freitag Abend das Flugzeug zu seiner Frau und den beiden Kindern daheim in Wien erwischen will.
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