Quo vadis, EU? Eine Gemeinschaft, die sich neu finden muss
Es rumort und rumpelt in Europa. Seit fast zehn Jahren scheint die EU von einer Krise in die nächste zu stolpern. Sie rettete sich nur mit Mühe vor dem Bankenkollaps und dem Ende des noch jungen Euro. Sie verfolgte geschockt den Annexionsappetit Russlands auf der Krim. Und sie sah ohnmächtig über eine Million Flüchtlinge auf den Kontinent ziehen. Und nun auch noch der Brexit!
Mehr als alles andere hat der Austrittswunsch der Briten die EU ins Mark getroffen. Bisher wollten Länder nur hinein in dieses auf 28 Staaten angewachsene Friedensprojekt, das seinen Mitgliedern wirtschaftlichen Zusammenhalt, Prosperität und Sicherheit versprach.
Doch seit vergangenem Sommer sind sie da, die Untergangsszenarien. Wird die EU auseinanderfallen? Erst die Briten und dann, wenn Marine Le Pen die Wahlen gewinnen sollte, vielleicht auch noch Frankreich? Die Front National-Chefin hat schließlich angekündigt, im Falle ihres Sieges ein Referendum über den "Frexit" abzuhalten.
Abgestraft
Dabei sollte die Rechtspopulistin doch wissen: Schon Präsident Charles de Gaulle hatte der EU einst ein halbes Jahr den Rücken gekehrt (wenngleich ein Austritt Frankreichs nicht zur Debatte stand). Doch die französischen Wähler goutierten diesen extremen Anti-EU-Kurs gar nicht und straften den Staatschef schmerzhaft ab.
Auch die Wahlen dieses Jahres werden für die Zukunft der Europäischen Union entscheidend sein. Die Niederlande, Frankreich, Deutschland – überall haben europafeindliche Kräfte großen Zuwachs zu verzeichnen. Aber in allen drei Ländern haben ausgesprochen europafreundliche Politiker, sei es der französische Kandidat Emmanuel Macron , sei es Kanzlerin Angela Merkel oder ihr sozialdemokratischer Herausforderer Martin Schulz, beste Chancen, das Heft des Handelns in der Hand zu behalten. Voreilige Grabgesänge an die EU sollten also besser gleich eingestellt werden.
Aber weitermachen wie bisher wird nicht mehr reichen – das weiß EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker, der ein Weißbuch mit fünf möglichen Entwicklungsszenarien für die EU vorlegte. Das wissen die nach dem Brexit verbleibenden 27 EU-Staaten. Das bekritteln die rund 500 Millionen Bürger der Europäischen Gemeinschaft, die oft nicht wissen, was die EU für sie bedeutet. Oder was die EU ihnen gebracht hat außer härtesten Sparvorgaben (Griechen), irrwitzigen Vorschriften (etwa Olivenöl in Restaurants nur noch in Einwegflaschen statt in Kännchen – das Verbot wurde wieder gekippt) und einem klaren Feindbild: das des regulierungswütigen und Milliarden verschlingenden Bürokratiemonsters Brüssel.
Einschränkungen
Wo Regeln sind, gibt es automatisch Einschränkungen. Für die Regeln der EU ist die Kommission zuständig. Für die großen politischen Linien aber, für die alles entscheidende Frage, was und wie die Europäische Union sein will, sind die Nationalstaaten gefragt – und damit auch jeder einzelne Bürger.
Bei den Staaten Osteuropas stößt die Idee eines Europas verschiedener Geschwindigkeiten auf massiven Widerstand. Man befürchtet, abgehängt, ein "Europäer zweiter Klasse" zu werden.
EU-Neigungsgruppen?
Oder sollte die EU künftig in bestimmten Bereichen zusammenarbeiten, also quasi Neigungsgruppen bilden. Wie da wäre die Gruppe "Finanztransaktionssteuer", an der neben Österreich derzeit nur zehn EU-Staaten teilnehmen würden. Oder die Gruppe "EU-Verteidigung", aus der sich Österreich heraushalten würde, Polen und die Baltenstaaten aber dabei wären.
Nur ein Szenario scheint für die EU derzeit völlig illusorisch: Die Bildung einer Art Vereinigte Staaten von Europa. Der Brexit verdeutlicht schmerzhaft und aufs Extremste: Die Nationalstaaten wollen wieder mehr Souveränität zurückzugewinnen anstatt sie an das europäische Zentrum abzugeben.
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