Mehr Substanz hat aber die Einschätzung, dass Putin wohl berechtigte Angst vor strafrechtlicher Verfolgung hat – und dass ihm bewusst ist, dass dies schneller passieren kann, als ihm lieb ist. „Putin hat Angst vor einem Regimewechsel. Das ist ein Thema, das seinen Weg sogar in die loyalsten Zirkel Putins findet – in die Massenmedien“, analysierte Lew Schlossberg, russischer Bürgerrechtler und Oppositionspolitiker, in einem Interview. Dort wird offen darüber spekuliert, wer Putin bei der Wahl 2024 nachfolgen könnte – seine Beliebtheitswerte sinken und sinken, Proteste gegen ihn und seine Getreuen sind keine Ausnahme mehr.
Die Liste an Dingen, die ihm nach einer Verdrängung aus dem Kreml zur Last gelegt werden könnten, ist nicht gerade kurz. „Im Laufe seiner zwei Dekaden im Amt hat er viele Dinge getan, für die er national und international zur Rechenschaft gezogen werden kann“, schreibt Bürgerrechtler Wladimir Kara-Murza, Leiter der Boris-Nemzow-Foundation. Neben Kriegsverbrechen in Tschetschenien, Georgien, der Ukraine und Syrien etwa „manipulierte Wahlen, eingesperrte Oppositionelle, zum Schweigen gebrachte Medien.“
Auch den Mord von Boris Nemzow, den Namensgeber von Kara-Murzas Stiftung, kann man hier einreihen. Nemzow, unter Jelzin Vizeministerpräsident und damals Putins Rivale auf Jelzins Nachfolge als Kremlchef, wurde 2015 erschossen – in Sichtweite des Kreml, und von hinten. Er war damals Putins bekanntester und einflussreichster politischer Gegner. Wenig Wunder, dass im Westen sofort von einem Auftragsmord im Sinne des Kreml die Rede war; ähnlich war es heuer bei der Vergiftung von Alexej Nawalny, Putins derzeitigem Erzfeind.
Millliardenabfluss
Nemzow wie Nawalny waren maßgeblich an der Enthüllung korrupter Machenschaften von Putins Kreis beteiligt. Nemzow warf ihm vor, mittels Insiderhandel über Geschäftsfreunde 60 Milliarden Dollar vom Gasriesen Gazprom abgezweigt zu haben. Enthüllungsjournalist Sergej Kolesnikow, mittlerweile im Exil, legte ihm zur Last, einen überdimensionalen Palast am Schwarzen Meer zu bauen – auf Staatskosten. Und in den Panama Papers war zu lesen, dass Putin einem Kindheitsfreund Milliarden zugeschanzt haben soll – ohne dessen Wissen. Auch darüber, wie Putins Tochter Katerina, eine Forscherin, zu ihrem Milliardenvermögen kam, wird spekuliert.
Oxford-Wissenschafter Anders Aslund, Autor von „Russlands Vetternwirtschaft“, schätzt, dass Putins Getreue und Familie, seit 2006 bis zu 325 Milliarden Dollar abgezweigt haben könnten. Die Hälfte davon wird Putin zugerechnet.
Grund genug, sich vor einer Anklage zu schützen. Freilich, ob dann alles nach Plan geht, ist die andere Frage. „Abgesetzte Diktatoren werden selten nach jenen Gesetzen behandelt, die sie geschrieben haben“, schreibt Bürgerrechtler Kara-Murza. Putin müsse nur Pinochet fragen, gegen den wurde auch Anklage erhoben. Allein: Verurteilt wurde er ob seines hohen Alters dennoch nie.
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