Boris Nemzow getötet: Empörung und Trauer
Er war in der Jelzin-Ära der jüngste Bürgermeister Russlands. Dann der jüngste Gouverneur einer Region und wurde 1997 mit ganzen 37 Jahren auch jüngster Vizepremier, wechselte dann zur Opposition und wurde einer der erbittertsten Gegner Wladimir Putins. Im Oktober wäre Boris Nemzow 56 geworden. Freitagabend streckten ihn Pistolenschüsse mitten im Zentrum von Moskau nieder.
Ermittler gehen derzeit von drei möglichen Motiven aus: Die neoliberale, oppositionelle Partei RPR-PARNAS hatte vor zwei Jahren bei den Wahlen zum Regionalparlament in Jaroslawl ihr erstes Mandat gewonnen und dieses Nemzow – einem der Ko-Chefs der Partei – übertragen. Der hatte damit die Kremlpartei „Einiges Russland“ frontal attackiert und Putin wegen dessen Ukraine-Politik angegriffen. Als weitere mögliche Tatmotive nannten die Fahnder geschäftliche Aktivitäten Nemzows und persönliche Aversionen. Der Regimekritiker polemisierte gern, seine Verbalinjurien trafen stets zielsicher.
Von Tätern fehlt jede Spur
Konkrete Hinweise zu den Tätern fehlen. Einen Erfolg konnten die Ermittler verzeichnen: Fernsehberichten zufolge haben sie möglicherweise das Fluchtauto der Täter gefunden. Der TV-Sender Rossija 24 zeigte das weiße Fahrzeug mit einem Nummernschild der russischen Teilrepublik Inguschetien, die im islamisch geprägten Konfliktgebiet Nordkaukasus liegt.
Indizien, so ein Sprecher der Ermittlungsbehörde, würden einen Auftragsmord vermuten lassen. Killer und Hintermänner seien offenbar bestens über den Terminkalender ihres Opfers informiert gewesen. Wichtigste Zeugin sei eine junge Bekannte aus der Ukraine, mit der Nemzow bei dem tödlichen Nachtspaziergang unterwegs war.
Trauermarsch
Präsident Putin hat zugesichert, sich für die Aufklärung des Verbrechens einzusetzen. „Boris Nemzow hat immer direkt und ehrlich seine Position vertreten und seinen Standpunkt verteidigt“, zollte der Kremlherr dem Ermordeten Achtung. Im Kreml sieht man im Mord „eine Provokation gegen die Macht“. Damit sollte die Stimmung vor dem „Frühlingsmarsch“ angeheizt werden, den die außerparlamentarische Opposition für heute geplant hatte. Boris Nemzow hatte mitmarschieren wollen.
Statt zum Frühlingsmarsch rufen die Organisatoren jetzt zum Trauermarsch auf. Das zunächst utopische Ziel der Veranstalter – an die 100.000 Teilnehmer – ist nach dem Anschlag jetzt durchaus realistisch.
Nemzows Partei scheiterte mit Ausnahme von Jaroslawl bisher bei allen Regionalwahlen an der Fünf-Prozent-Klausel. Gleiches droht auch bei den nächsten Duma-Wahlen. Selbst in der liberalen Jelzin-Ära kam die Vorgänger-Partei – die von Nemzow mitgegründete neoliberale „Union der Rechten Kräfte“ – nie auf mehr als acht Prozent. Umfragen ergeben, dass Russlands liberale Parteienlandschaft insgesamt selbst bei absolut fairen und freien Wahlen maximal 20 Prozent aller Stimmen erhalten würde.
Zwar macht der Mord Nemzow zum politischen Märtyrer und als solcher könnte er aus Sicht von Beobachtern kurzzeitig dafür sorgen, dass sich das liberale Lager in seiner Trauer kurzfristig zusammenrauft. Die Betonung liegt auf kurzzeitig. „Vierzig Tage“, ätzte ein Kolumnist. Es ist die Frist, nach der Hinterbliebene laut orthodoxen Riten wieder zur Tagesordnung übergehen und sich um Irdisches wie Erbe und Nachfolge kümmern.
„Hellster Stern“
Das wird schwierig für Russlands Regimekritiker. Boris Nemzow gehörte zu den „hellsten Sternen am Firmament, im Anti-Putin-Sonnensystem“, wie Jewgenija Albatz, die Chefredakteurin der kritischen Moskauer Wochenzeitschrift New Times befand. Zu Recht: Nemzow verfügte über jene Mischung von Charisma, politischer und organisatorischer Erfahrung einschließlich der hochrangigen Kontakte zum Machtapparat, wie sie erforderlich sind, damit die amorphe Protestbewegung den Sprung zur real existierenden Opposition schafft. Alle diese Voraussetzungen vereint sonst keiner der russischen Oppositionellen in sich.
In einer echten Demokratie hätte es Boris Nemzow (55) vielleicht bis zum Präsidenten schaffen können. Doch mit der Machtübernahme Vladimir Putins im Jahr 2000 war es mit der politischen Karriere für den studierten Strahlenphysiker, der es immerhin zum russischen Vizepremier gebracht hatte, für immer vorbei: Als Mitbegründer der liberalen Partei „Union der rechten Kräfte“ wurde er von den Staatsmedien totgeschwiegen, persönlich schikaniert und diffamiert, seine Partei mit bürokratischen Hürden eingedeckt. Als er 2011 versuchte, eine neue Partei zu gründen, wurde ihm dies von den Behörden zunächst überhaupt verweigert.
Bei Wahlen in Russland, aus seiner Sicht „eine Farce“ wollte er mehrmals nicht kandidieren. Doch seinen Kampf gegen den „Putinismus“ gab der vierfache Familienvater deshalb nicht auf. Nemzow organisierte Demonstrationen, protestierte, schrieb Pamphlete und prangerte die Korruption im Land an. Als einer der wenigen offenen Putin-Kritiker war Nemzow weder in Haft noch in Hausarrest oder im Exil.
Angst hatte er trotzdem, nicht zuletzt deshalb, weil er unentwegt die Annexion der Krim und den „Krieg Putins in der Ukraine“ anprangerte. „Ich fürchte, dass mich Putin umbringen wird“, schrieb der als charismatisch und extrem redegewandt geltende Nemzow knapp drei Wochen vor seiner Ermordung. Unter den wenigen russischen Oppositionellen war der einstige Günstling des früheren Präsiden Boris Jelzin für liberal gesinnte Russen die einzige Identifikationsfigur: Unerschrocken, authentisch, zuweilen derb, vor allem aber nicht radikal-nationalistisch
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