Wollte Alexei Nawalny provozieren, oder ist er eine unverwüstliche Frohnatur? Beobachter sind sich uneins, wie sie die Bilder deuten sollen, die den Kremlkritiker nach der gestrigen Urteilsverkündung in Siegerlaune zeigen.
Denn der Spruch, den Nawalny eine Schweinerei nannte, ist alles andere als ein Sieg: Dreieinhalb Jahre Haft. Auf Bewährung zwar, doch daraus könnten insgesamt fünfzehn Jahre Straflager werden. Denn der Staatsanwalt hatte für ihn zehn und für seinen Bruder Oleg acht Jahre Haft beantragt und will in Berufung gehen. Setzt er sich in zweiter Instanz durch, werden auch die fünf Jahre Bewährung, die Alexei 2013 kassierte, in ein reales Strafmaß umgewandelt. Weil er dann als Rückfalltäter gilt.
Kurz nach seiner Verurteilung ist Nawalny dann festgenommen worden: Auf dem Weg zu einer kremlkritischen Demonstration in Moskau klickten auf offener Straße die Handschellen - er steht seit Februar unter Hausarrest und hatte diesen gebrochen. Bei der Demonstration selbst wurden 130 weitere Personen in Gewahrsam genommen, Nawalny wurde von der Polizei wieder zu seiner Wohnung zurückeskortiert.
Erinnerungen an Chodorkowski
Kritische Beobachter fühlen sich an die Prozesse gegen den kremlkritischen Oligarchen Michail Chodorkowski erinnert. Er hatte die Opposition unterstützt, wurde indes wegen angeblicher Wirtschaftsverbrechen vor den Kadi gezerrt und verurteilt. Obwohl die Beweislage ähnlich dürftig war wie im Verfahren gegen die Nawalny-Brüder, die sich für Veruntreuung und Diebstahl verantworten mussten. Ihre Logistik-Firma soll Kunden – darunter auch die Russland-Tochter von Yves Rocher – durch überhöhte Rechnungen um 30 Millionen Rubel (rund 400.000 Euro) geprellt haben. Der französische Kosmetikkonzern sah sich zwar keineswegs als Geschädigter. Im Gegenteil: Durch den Vertrag mit Nawalnys Zustell-Service habe man viel Geld gespart.
Die Richterin focht das nicht an. Denn der eigentliche Prozessgegenstand waren nicht die angeblich überhöhten Logistik-Rechnungen, sondern die offenen Rechnungen, die der Kreml mit seinem Widersacher Nawalny hat. Auf einem spendenfinanzierten Internetportal prangert er die krassesten Fälle von Bereicherung und Zweckentfremdung von Staatsgeldern an. Mit Namen und Adresse. Darunter Freunde von Kremlchef Wladimir Putin.
Vor allem aber war er Mastermind und einer der Führer der Massenproteste gegen die nicht ganz lupenreinen Parlamentswahlen 2011 und gegen Putins Rückkehr in den Kreml im Mai 2012.
Kurz danach wurde ihm der erste Prozess gemacht. Als Berater des Gouverneurs von Kirow soll er den dortigen staatlichen Forstbetrieb zu einem unvorteilhaften Vertrag gedrängt haben. Das Gericht befand ihn schuldig. Trotz grottenschlechter Faktenlage. Im Berufungsverfahren wurde aus Haft Bewährung.
Nawalny kandidierte bei der Oberbürgermeisterwahl in Moskau, und die sollte, auch um die Fälschungsvorwürfe bei den Dumawahlen 2011 zu entkräften, sauber ablaufen. Nawalny fuhr mit 27 Prozent das mit Abstand beste Ergebnis für die Opposition in der Ära Putin ein. Das schmeichelte zwar seinem brennenden politischen Ehrgeiz, machte aber gleichzeitig klar, wie begrenzt sein reales Gefährdungspotenzial für das System ist.
Den meisten ist er egal
Vor allem außerhalb Moskaus, auf dem flachen Lande, ist er den Menschen gleichgültig. Das beweisen sogar Umfragen kritischer Meinungsforscher. Mit nationalistischen Ausrutschern und Profilierungsneurosen verprellte er sogar den liberalen Flügel der längst implodierten Protestbewegung.
Dass sie ohnehin auf die Mittelschicht in den Großstädten beschränkt blieb, hat Nawalny mitzuverantworten, der Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit ignorierte. Auch deshalb ist schwer nachvollziehbar, warum Russlands Justiz sich erneut dem Vorwurf der Abhängigkeit aussetzt. Um neue Proteste zu verhindern, hatte das Gericht Montag die ursprünglich für den 15. Jänner geplante Urteilsverkündung vorverlegt. Unmittelbar vor dem Neujahrsfest, so offenbar das Kalkül, hätten die Hauptstädter anderes zu tun.
Interessant ist die Berichterstattung des Propaganda-Fernsehens Russia today im Internet (deutsch): Der Zugang zur Seite, die zur Unterstützung Nawalnys aufrief, sei auf Facebook für russische User eingeschränkt worden. Nawalny sei, entgegen anderslautenden Berichten, nicht für sein politisches Engagement sondern wegen Unterschlagung und Geldwäsche angeklagt gewesen. Und überhaupt: "Was die Sperrung von Websites angeht, liegt Deutschland in der Statistik vor Russland."
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