Demonstranten bieten der Polizei die Stirn

In der Nacht ging die Polizei mit Tränengas gegen Aktivisten vor. Dennoch bleiben die Protestcamps.

Die türkische Protestbewegung trotzt der Regierung auch nach der schweren Eskalation der Polizeigewalt auf dem Taksim-Platz in Istanbul die Stirn. Zwar räumte die Polizei nach stundenlangen Auseinandersetzungen und Tränengasangriffen den Platz in der Nacht. Dennoch hielten Gruppen der Protestierer am Mittwoch dort weiter in einem Protestcamp aus. Im Gezi-Park hielten mehrere hundert Menschen die Stellung. Mit dünnen Regenmänteln bekleidet schoben sie Müll zusammen. Was die Polizei in der Nacht nicht zerstört hat, wurde vom Regen dahingerafft.

Inzwischen nennen sie sich selbst Capulcular: Ein Begriff, der eigentlich als Beleidigung gemeint ist, und von Premier Recep Tayyip Erdogan verwendet worden war. Er bedeutet Plünderer (Einzahl: Capulcu). Erdogan hatte die Mitglieder der Protestbewegung abfällig so genannt. Die Protestbewegung nahm den Begriff dankend auf und bezeichnet nun ihre eigenen Anhänger selbst als Capulcular - nunmehr ein Ehrentitel für sie. Auf YouTube ist bei vielen türkischen Jugendlichen gerade ein abgewandelter Rap-Hit mit dem Titel „Everyday I’m capulling“ der Renner. Und die Facebook-Seite „Chapullers“ hat mittlerweile 35.000 Fans.

Erdogan traf am Mittwoch Künstler und Vertreter der Protestbewegung zu einem als informell bezeichneten Gespräch. Allerdings fehlten wichtige Organisatoren der Proteste, wie die Taksim-Plattform, die vorher mit Erdogans Stellvertreter Bülent Arinc gesprochen hatten.

Der Großeinsatz der Polizei gegen die Demonstranten auf dem Taksim-Platz hatte die Lage nach zehn Tagen wieder dramatisch verschärft. Der Gouverneur von Istanbul, Hüseyin Avni Mutlu, beschuldigte die Demonstranten, die Polizei angegriffen zu haben. Der Polizeieinsatz auf dem Platz werde so lange fortgesetzt wie nötig, sagte er. Der Gouverneur forderte die Bürger Istanbuls auf, sich vom Taksim-Platz fernzuhalten, bis Sicherheit hergestellt sei.

Einen Livestream zum Taksim-Platz finden Sie hier.

Die türkische Rundfunkbehörde RTÜK ging unterdessen gegen kritische Sender vor. Der Sender Halk TV, der anders als Nachrichtensender der türkischen Medienkonzerne durchgehend über die Demonstrationen berichtet, wurde genau wie drei weitere Stationen zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Rundfunkbehörde wirft den TV-Stationen vor, gegen Sendeprinzipien verstoßen zu haben und mit ihren Programmen die physische, geistige und moralische Entwicklung junger Menschen zu gefährden, wie es weiter hieß es.

"Erhöhte Gefährdung"

Demonstranten bieten der Polizei die Stirn
Übersichtskarte Türkei - Erhöhte Sicherheitsgefährdung laut Außenministerium, Schwerpunkte der Proteste, Tourismus-Zentren Stadtplan Istanbul, Ausschnitt mit Taksim-Platz Grafik 0735-13-Tuerkei.ai, Format 88 x 115 mm
Nach Angaben des österreichischen Außenministeriums besteht in der Türkei eine "erhöhte Sicherheitsgefährdung". Dies gelte aber nicht für die traditionellen Tourismusgebiete. Auch bestehe für die Türkei keine "Reisewarnung" wie für Syrien, Irak oder Jemen. Trotz der anhaltenden Proteste lassen sich Touristen aus Österreich weiterhin nicht von einer Urlaubsreise in die Türkei abhalten. Bis jetzt gibt es keine Buchungszurückhaltung und auch erstaunlich wenig Anfragen von Konsumenten zur Sicherheit in der Türkei, sagte TUI-Austria-Sprecherin Kathrin Limpel.

Sorge um die Türkei

International wuchsen Besorgnis und Kritik wegen des Vorgehens der türkischen Polizei. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon rief alle Beteiligten zu Ruhe und friedlichem Dialog auf. "Proteste sollten friedlich sein, und das Recht auf Versammlung und freie Meinungsäußerung sollte respektiert werden, denn das sind fundamentale Prinzipien eines demokratischen Staates", sagte sein Sprecher in New York.

Die USA, die die Türkei unter Erdogan bisher als Musterbeispiel für eine islamische Demokratie bezeichnet hatten, äußerten sich besorgt über die Lage in dem Nato-Staat, der an das Bürgerkriegsland Syrien grenzt. Auch Frankreichs Außenminister Laurent Fabius rief die türkische Regierung zur "Zurückhaltung" und zum "Dialog" auf.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte nach Angaben von Regierungssprecher Steffen Seibert "konstruktive Gespräche durch Besonnenheit aller Seiten". Außenminister Guido Westerwelle (FDP) rief zur Zurückhaltung auf. "Die türkische Regierung sendet mit ihrer bisherigen Reaktion auf die Proteste das falsche Signal, ins eigene Land und auch nach Europa", sagte Westerwelle am Mittwoch in Berlin. "Wir erwarten, dass Ministerpräsident Erdogan im Geiste europäischer Werte deeskaliert und einen konstruktiven Austausch und friedlichen Dialog einleitet."

Auch ein österreichischer Politiker meldete sich zu Wort: BZÖ-Chef Klubobmann Josef Bucher fordert angesichts der "immer größeren Menschenrechtsverletzungen" in der Türkei den sofortigen Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union.

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TURKEY PROTEST
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Riot policemen stand guard in Istanbul's Taksim sq
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Protesters disperse as riot police use teargas in
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Protesters disperse as riot police use teargas in
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Anti-government protesters wave flags during a pro
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Anti-government protesters take part in a protest
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A protester uses a slingshot to throw stones at ri
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Turkish riot police secure the area during a prote
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A protester fires fireworks with a home made devic
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Turkish riot policemen are hit by petrol bombs dur
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A protester falls as he is hit by a jet of water f
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A protester holds a petrol bomb behind his back du
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A protester throws stones at a riot police vehicle
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Protesters run away from teargas during clashes in
Demonstranten bieten der Polizei die Stirn

Protesters stand over the barricade during clashes

Wie soll Europa auf die Gewalt in der Türkei reagieren? Dazu gab es am Mittwoch im EU-Parlament eine lebhafte Debatte. „Wir haben zu viele Beispiele von ausufernder Polizeigewalt gegen friedvolle Demonstranten gesehen“, sagte EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton. „Das muss ordentlich untersucht werden.“ Während der konservative deutsche Abgeordnete Elmar Brok eher eine Bestätigung sah, dass die Türkei nicht geeignet sei für eine vollwertige EU-Mitgliedschaft, erwartet sich Ashton eine andere Antwort der EU: „Wir dürfen uns jetzt nicht abwenden, sondern müssen uns noch mehr engagieren. Das ist für die Türkei eine Chance, sich zu europäischen Werten zu bekennen – und unsere Chance, Einfluss zu nehmen.“

Parlamentspräsident Martin Schulz kritisierte Erdogans Umgang mit den Protesten als „völlig inakzeptabel“. Auch Schulz ist aber dafür, den Dialog fortzuführen. Klare Worte fand sein Parteikollege Hannes Swoboda, Fraktionschef der Sozialdemokraten: „Vier Tote, 5000 Verletzte und zahlreiche Demonstranten im Gefängnis – reagiert so eine demokratische Regierung auf Proteste?“

Swoboda fordert, sofort zwei weitere Kapitel im Beitrittsprozess mit der Türkei zu eröffnen: Jene zu Rechtsstaat und Grundrechten sowie zu Recht, Freiheit und Sicherheit. „Hier kann sich die türkische Regierung beweisen“, sagte Swoboda. Seine Botschaft an Erdogan: „Ja, wir wollen die Türkei – aber diese Türkei, wie sie heute von Erdogan repräsentiert wird, kann keinen Platz in Europa haben. Erdogan muss sich ändern, damit die Türkei ein demokratisches Land wird.“

Viele türkische Medien berichten nicht über die anhaltenden Proteste in Ankara und Istanbul, aus Angst vor Sanktionen durch den Staat. Stattdessen zeigt das türkische Fernsehen Quiz-Sendungen und Dokumentationen über Pinguine. Viele Demonstranten haben sich eben dieser Tierdokus im Widerstand gegen die Regierung bedient. Zahlreiche Aktivisten treten im Pinguin-Kostüm oder –Maske auf die Straße. Diese Bilder werden auch über Twitter verbreitet. Sie versuchen so, jene Medien zu entlarven, die sich weigern zu berichten und wollen Aufmerksamkeit erregen.

Der türkische Regierungschef ist kein Muammar Gaddafi und auch kein Hosni Mubarak, aber gelernt hat auch Tayyip Erdogan von den Vorgängen des Arabischen Frühlings rein gar nichts. Forderungen nach mehr Mitbestimmung und Demokratie lässt der Autokrat vom Bosporus plattwalzen – wie jetzt auf dem Istanbuler Taksim-Platz.

Gewiss, nicht alle Demonstranten protestieren friedlich, die Masse aber schon. Und die hat die Nase voll vom System Erdogan. Ein wenig überspitzt lautet dieses: Der Staat bin ich.

Auf diese Art hat der einflussreichste türkische Politiker seit Staatsgründer Atatürk das Land zwar auf Platz 17 der weltweit stärksten Wirtschaftsnationen katapultiert, die Armee wurde in die Kasernen verbannt und Ankara zu einem „regional player“ mit globalen Ambitionen. Doch zugleich wurden Kritiker mundtot gemacht, und der Staat mischte sich zunehmend in die Privatsphäre der Menschen ein. Ein Beispiel: strengere Alkoholregeln.

Den liberal-säkularen Kräften reicht es, vor allem die Jungen proben den zivilgesellschaftlichen Aufstand. Erdogan reagiert mit Härte und ist damit jetzt schon der Verlierer. Denn egal, wie die Schlacht um den Taksim-Platz ausgehen wird, ein Rambo-Premier ist international isoliert. Und national fügt er den vielen positiven Kapiteln in künftigen Geschichtsbüchern ein dickes negatives hinzu. Der egomanische „Sultan“ hat den Bogen überspannt.

Knapp ein Viertel der Menschen in der Türkei unterstützt die Proteste gegen die Regierung im Istanbuler Gezi-Park. Das geht aus einer am Mittwoch veröffentlichten Umfrage des türkischen Sozialforschungsinstituts Andy-ar hervor. Demnach antworteten 24,3 Prozent der Angesprochenen auf die Frage "Unterstützen Sie die Aktionen im Gezi-Park?" mit "Ja" und 52,5 Prozent sagten "Nein". Für eine Fortsetzung der Proteste sprachen sich den Angaben zufolge lediglich 7,5 Prozent Befragten aus.

Auf die Frage, welcher Partei sie ihre Stimme geben würden, wenn am nächsten Sonntag gewählt würde, antworteten 49,6 Prozent "die AKP" (von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan). 23,3 Prozent würden die streng säkular orientierte Oppositionspartei CHP wählen, die die Proteste unterstützt. Die ultranationalistisch-religiöse MHP erhielte 15,9 Prozent der Stimmen. Das entspricht in etwa dem Ergebnis der Parlamentswahl von 2011.

Für die Umfrage sprachen die Sozialforscher nach eigenen Angaben zwischen dem 5. und dem 10. Juni in 21 Städten und ländlichen Bezirken mit 3643 Erwachsenen.

Noch in der vergangenen Woche war es lediglich ein lokaler Protest gegen eine Städtebau-Projekt in Istanbul, inzwischen hat der Proteststurm in der Türkei mehr als 60 Städte erfasst. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sieht sich mit dem größten politischen Flächenbrand seit seinem Amtsantritt im Jahr 2002 konfrontiert:

28. Mai: In der Millionen-Metropole Istanbul gibt es eine Demonstration gegen den Bebauungsplan im Gezi-Park in der Nähe des Taksim-Platzes. Erdogans Partei will dort ein osmanisches Kasernengebäude aus dem 18. Jahrhundert nachbauen und darin Cafés, Museen oder auch ein Einkaufszentrum unterbringen.

31. Mai: Die Polizei in Istanbul setzt Tränengas gegen mehrere hundert Demonstranten ein. Es gibt mindestens zwölf Verletzte.

1. Juni: Die Proteste in Istanbul werden gewalttätiger, die Demonstranten werfen Steine und Flaschen, die Polizei setzt Tränengas und Pfefferspray ein. Der Funken springt auf andere Städte über. Amnesty International sprich von hundert verletzten Demonstranten. Erdogan räumt "einige Fehler" im Verhalten der Polizei ein, die vom Taksim-Platz abgezogen wird. Dort rufen die Demonstranten nun auch: "Regierung, tritt zurück!"

2. Juni: Erste große Protestkundgebung in der Hauptstadt Ankara: Rund tausend Demonstranten versuchen zum Regierungssitz zu ziehen. Die Polizei setzt Wasserwerfer und Tränengas ein. Amnesty International beklagt, mehrere Demonstranten seien durch das Tränengas erblindet. Die Angaben zur Bilanz der Auseinandersetzung gehen nun weit auseinander: Innenminister Muammer Güler spricht von 58 verletzten Zivilisten und 115 verletzten Polizisten landesweit. Er gibt die Zahl der Festgenommenen mit 1700 in 67 Städten an. Menschenrechtsgruppen bilanzieren ihrerseits inzwischen tausend Verletzte in Istanbul und 700 in Ankara.

3. Juni: Präsident Abdullah Gül versichert den Demonstranten, ihre Botschaft sei "angekommen". Erdogan seinerseits will nicht zurückstecken und lehnt es vehement ab, in Anlehnung an den Arabischen Frühling nunmehr auch von einem Türkischen Frühling zu sprechen. In der Provinz Hatay wird laut dem Sender NTV ein 22-jähriger Demonstrant von einem Unbekannten angeschossen und so schwer verletzt, dass er im Krankenhaus stirbt.

4. Juni: Erneute Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Polizei in Istanbul und Ankara. In der Stadt Antakya wird nach Angaben von Behördenvertretern ein weiterer Demonstrant getötet. Laut Vizeregierungschef Arinc wurden bisher 244 Polizisten und 64 Zivilisten verletzt. Aktivisten sprechen dagegen weiter von hunderten Verletzten. Zwei große Gewerkschaften, KESK und DISK, unterstützen die Protestbewegung mit einem Aufruf zu einem zweitägigen Streik.

5. Juni: Tausende folgen dem Streikaufruf. Sie fordern lautstark Erdogans Rücktritt. Anführer der Protestbewegung treffen Arinc in Ankara und übergeben einen Forderungskatalog: sie verlangen unter anderem ein Einsatzverbot für Tränengas, die Freilassung festgenommener Demonstranten und die Entlassung der für brutale Polizeieinsätze verantwortlichen Polizeichefs. In Izmir werden 25 Menschen wegen Übermittlung "irreführender und verleumderischer" Nachrichten über den Kurznachrichtendienst Twitter festgenommen.

6. Juni: Nach Medienberichten stirbt erstmals ein Polizist seinen Verletzungen im Krankenhaus. Erdogan verkündet bei einem Besuch in Tunis, er wolle von dem umstrittenen Bauprojekt nicht abrücken. Er sieht auch "Terroristen" unter den Demonstranten.

8./9. Juni: Auch am Wochenende gab es Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizei. Premier Erdogan sagte bei einer Rede am Flughafen in Ankara, seine Geduld gehe zu Ende und rief seine Anhänger zu Gegendemonstrationen auf.

10. Juni: Erdogan kündigt an, mit Vertretern der Protestbewegung reden zu wollen.

11. Juni: Spezialpolizei fährt mit gepanzerten Fahrzeugen am Istanbuler Taksim Platz auf.

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