Unklarer Kompromiss in Kiew
Einigung oder nicht? Noch immer ist unklar, ob in Kiew eine Entscheidung gefallen ist. Die ukrainische Staatsspitze um den umstrittenen Präsidenten Janukowitsch sprach am Vormittag von einem Kompromiss über vorgezogene Neuwahlen im Dezember, die EU hingegen von weiteren Gesprächen. Die Lösung solle eine Übergangsregierung unter Beteiligung der Opposition umfassen, sowie eine Verfassungsänderung bis September und vorgezogene Präsidentenwahlen spätestens im Dezember.
Nach Angaben des deutschen Außenministers Steinmeier, der als Vermittler in Kiew ist, gibt es diese Einigung aber noch nicht. Steinmeier will sich erneut mit der Opposition treffen. Auch Polens Premier Donald Tusk warnt vor verfrühter Freude: "Eine Einigung liegt in weiter Ferne. Möglicherweise wird die Opposition dem vorliegenden Entwurf nicht zustimmen."
Kurz zuvor hatte Janukowitsch bereits im Parlament bestätigt, dass es Neuwahlen und eine Rückkehr zur Verfassung von 2004 geben werde. Sie billigt dem Präsidenten weniger Befugnisse als bisher zu. Ob diese Forderung der Opposition nun erfüllt wird oder nicht, ist unklar.
Russland verweigert Zustimmung
Auch das russische Ja zu einem solchen Kompromiss ist zweifelhaft - wie die Financial Times berichtet, sei Moskau bereit, die russischsprachige Bevölkerung bei einem Zerfall des Landes auch mit kriegerischen Mitteln zu verteidigen. Konkret geht es um die Einwohner der Krim - ein "georgisches Szenario", also die Abspaltung eines Landesteiles unter russischem Protektorat, könnte drohen. Auch der russische Ukraine-Vermittler Wladimir Lukin hat sich der Agentur Interfax zufolge geweigert, das Abkommen zur Lösung der Krise in Kiew zu unterzeichnen.
Zustimmung am Maidan fraglich
Zuvor hatten die drei EU-Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Radoslaw Sikorski und Laurent Fabius sich mit Janukowitsch und der Opposition beraten - die ganze Nacht lang. Auch die deutsche Kanzlerin Merkel fungierte als Vermittlerin hinter den Kulissen: Sie hat am Donnerstag mit US-Präsident Barack Obama, Putin, Janukowitsch und EU-Partnern beraten, so Regierungssprecher Steffen Seibert.
Allerdings ist und bleibt fraglich, ob die Demonstranten am Maidan dem Kompromiss - so es ihn gibt - zustimmen werden. Sie kündigen bereits jetzt an, die Barrikaden nicht abbauen zu wollen, wie NBC und die Zeit vor Ort berichten.
Schüsse auf dem Maidan
Vormittags fielen zudem wieder Schüsse im Kiewer Zentrum: Unbekannte sollen erneut auf Polizisten gefeuert haben, so Ministeriumssprecher Burlakow - es soll zudem Versuche gegeben haben, zum Parlament vorzudringen. Dort tagten am Freitag die Abgeordneten, um die Verfassungsänderungen auf den Weg zu bringen. In angespannter Stimmung kam es zwischen den Parlamentariern zu Raufereien, es flogen die Fäuste.
Auch Sicherheitskräfte sollen versucht haben, im Parlament zu schlichten:
Blutbad mit bis zu 100 Toten
Nach dem neuerlichen Blutbad auf dem Maidan am Donnerstag war in der Nacht nach einer politischen Lösung des Konflikts gesucht worden. Ziel war ein Fahrplan, der ein Ende der Gewalt ermöglicht. In die Beratungen schaltete sich telefonisch auch der russische Präsident Wladimir Putin ein. Er schickte außerdem auf Bitte Janukowitschs den scheidenden Menschenrechtsbeauftragten Wladimir Lukin als Vermittler nach Kiew.
Trotz einer Vereinbarung auf gegenseitigen Gewaltverzicht war die Lage am Donnerstag in Kiew außer Kontrolle geraten. Bei Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften und Regierungsgegnern wurden nach Regierungsangaben mindestens 47 Menschen getötet, andere Quellen sprechen von bis zu 100 Toten, viele wurden von Scharfschützen tödlich getroffen. Die Lage in der Nacht war vergleichsweise ruhig, wie Augenzeugen berichteten. Eine Nachlese der Ereignisse vom Donnerstag finden Sie hier.
EU-Sanktionen beschlossen
Unter dem Eindruck der dramatischen Ereignisse beschlossen die EU-Außenminister Donnerstagnachmittag Sanktionen gegen die Verantwortlichen für die Gewalt. Sie sollen vor allem die Regierung des Landes treffen. Die Minister einigten sich in Brüssel auf Einreiseverbote und Kontensperrungen. Eine Liste der davon möglicherweise Betroffenen werde unverzüglich ausgearbeitet, berichtete ÖVP-Außenminister Sebastian Kurz. Ungewiss blieb, wann die Sanktionen tatsächlich in Kraft treten (mehr dazu unten).
Auf der Liste, die seit Freitag von EU-Experten erstellt wird, könnten Regierungsvertreter oder Vertreter der Polizei stehen, wie Belgiens Außenminister Didier Reynders sagte. Unklar ist bisher, ob die EU auch den ukrainischen Staatschef Viktor Janukowitsch bestraft. Doch das ist unwahrscheinlich, wie EU-Diplomaten erläuterten. Auch US-Vizepräsident Joe Biden drohte Janukowitsch zunächst nur mit Sanktionen gegen seine Gefolgsleute.
Die ukrainische Führung warnte die EU vor Strafmaßnahmen. "Sanktionen würden die Situation verschärfen, sie wären Öl ins Feuer", sagte Präsidialamtschef Andrej Kljujew, dem unter anderem eine Firma in Wien gehört. Auch zahlreiche andere ukrainische Oligarchen sollen ihr Geld bei österreichischen Banken gebunkert haben, wie Medien berichteten (siehe unten).
Raiffeisen schloss Filialen vorübergehend
Europas Wirtschaft reagierte auch auf die Proteste - die Raiffeisenbank etwa schloss vorübergehend alle Filialen in Kiew, teilte die RBI-Sprecherin Ingrid Krenn-Ditz am Freitag mit. Inzwischen hat die RBI -Tochter Aval Raiffeisen wieder alle bis auf fünf Filialen im Stadtzentrum geöffnet. Aval ist mit 800 Filialen die viertgrößte Bank des Landes. Auch bei der zu UniCredit gehörenden Bank Austria seien bis auf vier Niederlassungen in der Nähe des Unabhängigkeitsplatzes (Maidan) alle Standorte von zehn bis 15 Uhr geöffnet, sagte ein Sprecher. Die UniCredit stellt die sechstgrößte Bank des Landes mit rund 380 Filialen. Viele andere Banken haben sich schon in den vergangenen Jahren aus dem Land zurückgezogen - darunter die Erste Group, Commerzbank und die schwedische SEB und die Swedbank. Auch Raiffeisen hatte zuletzt einen Verkauf ihrer Tochter geprüft - das dürfte nun angesichts der Krise schwierig werden.
Wer ist wer im Ukraine-Konflikt?
Die Außenminister der EU-Staaten einigten sich am Donnerstag wie erwartet auf Sanktionen gegen die politische Führung der Ukraine. Bei einem Sondertreffen in Brüssel gab es jedoch nur einen grundsätzlichen Beschluss, dass man Personen, "die für Menschenrechtsverletzungen und Gewalt verantwortlich sind", die Einreise in die EU verweigern und ihre Konten in Europa sperren lassen will. Zusätzlich gibt es ein Embargo für sogenanntes Repressionsmaterial – also alles, was zur Niederschlagung vom Demonstrationen verwendet werden kann. Wen genau die Sanktionen treffen werden, ist noch unklar – eine Liste mit Namen soll in den kommenden Tagen erarbeitet werden.
"Wir müssen erst einmal feststellen, wer wirklich für die Gewalt verantwortlich ist", sagte der niederländische Außenminister Frans Timmermans. Zwar sei klar, dass Regierungstruppen Menschen getötet hätten. "Aber es ist auch klar, dass es auch aufseiten der Opposition kleine radikale Gruppen gibt, die für exzessive Gewalt verantwortlich sind."
Außenminister Sebastian Kurz kündigte an, Österreich wolle die Sanktionen "rasch umsetzen"; auf heimischen Banken werden einige Oligarchen-Milliarden aus der Ukraine vermutet. In Diplomatenkreisen hieß es, die Einreisesperre könnte in Österreich binnen 24 Stunden umgesetzt werden, sobald die Liste mit den Namen feststeht. Für das Einfrieren von Konten müsse die EU-Kommission eine Verordnung vorlegen, was nächste Woche passieren soll.
"Ich hätte mir auch ein Waffenembargo gewünscht, aber dafür hat es keine Übereinstimmung gegeben", sagte Kurz nach der Sitzung. Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner wollte am Rande des Wettbewerbsrates in Brüssel nicht ausschließen, dass es nun auf ukrainischer Seite "Gegenüberlegungen im Gasbereich" geben könnte. Österreich wäre für diesen Fall "gut aufgestellt".
Merkel-Warnung
Die deutsche Kanzlerin Merkel, die wegen der Krise mit US-Präsident Obama und dem russischen Staatschef Putin telefonierte, warnte Präsident Janukowitsch in einem Gespräch vor einem Spiel auf Zeit: Dies werde den Konflikt nur weiter anheizen. Alle Seiten müssten den Waffenstillstand umsetzen, die Hauptverantwortung dafür liege bei der Regierung. Merkel hat laut ihrem Sprecher Janukowitsch "dringend" geraten, das Vermittlungsangebot der EU anzunehmen.
Russland wettert nach wie vor gegen eine Einmischung des Westens: Außenminister Sergej Lawrow bezeichnete die drohenden Sanktionen aus Brüssel als "Erpressung" und warnte, dass sie "die Konfrontationen nur noch verschärfen" werden. Moskau schickte gestern einen eigenen Vermittler nach Moskau – auf Bitte von Janukowitsch, wie es hieß.
Noch in der Nacht nach seinem Rücktritt soll er in Wien gelandet sein. Mykola Azarow, inzwischen Ex-Premier der Ukraine von Viktor Janukowitschs Gnaden, musste Ende Jänner dem Druck der Massenproteste weichen. Zum Glück gibt es für einen wie Azarow ein Plätzchen, wohin er sich zurückziehen kann, wenn es in der Heimat politisch zu ungemütlich wird – Wien.
Hier, und zwar im noblen Grünviertel Pötzleinsdorf, residieren Sohn und Schwiegertochter nicht nur, sie betreiben von hier aus ein ziemlich komplexes Firmengeflecht. Rund um eine Firma namens "Vienna Deluxe" werden da Magazine für die Obersten Zehntausend produziert, aber auch diverse andere Geschäfte getätigt.
Von den Azarows ist es – zumindest wenn man sich das heimische Firmenbuch entlanghantelt – nicht weit bis zu Staatspräsident Janukowitsch und dessen Clan. Denn die Pötzleinsdorfer Residenz führt über einige Umwege zu einer Firma, bei der auch Immobilien und andere Besitztümer von Janukowitsch geparkt sind. Darunter auch einer seiner offiziellen Amtssitze in der Ukraine. Dieser nämlich ist in seiner Luxus-Datscha "Meschigorja" nur Mieter. Befindet sich das Anwesen in der Nähe von Kiew doch über Umwege im Besitz einer in Wien angesiedelten Firma. Hinter der steht wiederum eine Londoner und hinter der eine Liechtensteiner Adresse.
Ebenfalls leidenschaftliche Wien-Fans sind die Brüder Andrij und Sergij Klujew. Diese beiden, die nicht nur als engste Vertraute, sondern vor allem als Vermögensverwalter des Staatspräsidenten gelten, nützen Wien als Drehscheibe für ihr riesiges Firmengeflecht. Unter dem Dach von zwei österreichischen Aktiengesellschaften sind Dutzende Firmen in der Ukraine versammelt. Verfolgt man hier die Besitzverhältnisse, landet man schließlich wieder an derselben Adresse in Liechtenstein.
Nach den schweren Auseinandersetzungen mit vielen Toten zwischen Regierung und Opposition steht die Ukraine nach Meinung der US-Ratingagentur Standard & Poor's kurz vor der Pleite. Ein Zahlungsausfall des in einer Staatskrise steckenden Landes werde immer wahrscheinlicher. Entsprechend senkte S&P die Bonitätsnote der Ukraine um eine Note auf "CCC" mit negativem Ausblick, teilte S&P am Freitag mit.
Mit einer schnellen Besserung der Lage rechnen die Ratingexperten nicht. Die jetzige Bewertung ist nur wenige Schritte von der Note "D" entfernt. Sie wird vergeben, falls Länder ihren aus der Kreditaufnahme resultierenden Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen können.
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