Die Grüne Lunge der Welt wird das größte zusammenhängende Waldgebiet der Welt gerne genannt. Doch die wird im Rekordtempo verstümmelt. Im heurigen Juni wurde im brasilianischen Amazonasgebiet um 60 Prozent mehr abgeholzt oder abgefackelt (Brandrodung) als im Vergleichszeitraum 2018, allein im ersten Halbjahr waren es 2300 (fast die Fläche Vorarlbergs). Über die Jahrzehnte verschwand so ein Fünftel des Amazonaswaldes.
Einer, der die Region so gut kennt wie kaum ein anderer, ist der aus Vorarlberg stammende emeritierte Bischof Erwin Kräutler. Seit bald 55 Jahren lebt er im Herzen des Amazonas. Und engagiert sich unermüdlich für die Erhaltung dieses einzigartigen Naturjuwels und für die dort lebende indigene Bevölkerung. Anlässlich seines 80. Geburtstages (12. Juli) gab er dem KURIER folgendes Interview:
KURIER: Wie beurteilen Sie die dramatische Entwicklung in Amazonien?
Erwin Kräutler: Die Situation ist nicht mehr tragbar. Es ist erwiesen, dass die Region eine Weltklima-regulatorische Funktion innehat. Die Ersten, die leiden werden, sind die Länder im Süden Brasiliens und des gesamten Kontinents, später werden die globalen Auswirkungen spürbar sein, dann hat der ganze Planet das Nachsehen.
Der neue brasilianische Präsident Jair Bolsonaro, der seit Jahresbeginn im Amt ist, hat schon im Wahlkampf angekündigt, das Amazonasgebiet wirtschaftlich verstärkt nutzen zu wollen. Tut er das? Wenn ja, wie?
Unter ihm ist alles noch viel schlimmer geworden. Er will die Region „erschließen“, wie es heißt. Das wird als „Fortschritt“ verkauft, in Wahrheit geht es nur um Profit. Etwa im Fall eines kanadischen Konzerns, der für zwölf Jahre die Rechte bekommen soll, im Tagbau Gold zu schürfen. 60 Tonnen sollen es werden. Dann hauen sie wieder ab – und zurück bleibt eine Mondlandschaft.
Ist es nur die Suche nach Bodenschätzen, durch die die Wälder zerstört werden, oder gibt es auch andere Ursachen?
Die Umwelt, ich sage lieber die Mitwelt, geht auch dadurch verloren, dass riesige Flächen gerodet werden, um darauf Rinder weiden zu lassen oder Soja beziehungsweise Zuckerrohr anzubauen. Das frisst den Wald vom Süden her auf.
Und was passiert mit der indigenen Bevölkerung, die dort lebt?
Auf die wird keine Rücksicht genommen, deren Lebensgrundlagen werden vernichtet. Das Volk spielt keine Rolle, es dreht sich alles nur um Unternehmen. Das hat leider eine lange Tradition: Amazonien wurde in Brasilien immer schon als eine Provinz angesehen, aus der man alles holen kann, was man braucht. Und zugleich als eine, die selbst gar nichts braucht. Anfangs war das die Kautschuk-Gewinnung, dann ging es um Edelmetalle und Bodenschätze. Und jetzt wird die Region als energetische Provinz gesehen – als Zentrum der Wasserkraft, verbunden mit Mammut-Kraftwerken ...
... wie etwa Belo Monte.
Ja, ich habe mich von Anfang an gegen das Wasserkraftwerk, es ist das drittgrößte der Welt, eingesetzt. Damals wurde ich dafür von den örtlichen Kaufleuten angefeindet, weil die Regierung ihnen große Geschäfte versprochen hatte. Heute klopfen sie mir auf die Schultern und sagen: „Von dem Kraftwerk haben wir gar nichts.“
Für den Kraftwerksbau mussten Zehntausende ihre Häuser und Wohnungen verlassen. Wie geht es ihnen jetzt?
Sie wurden zwangsweise umgesiedelt. Jetzt sind sie in Randbezirken der Städte und haben dort zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Zudem sind die Fertigteilhäuser aus Beton, in denen sie jetzt leben, für das Gebiet nicht klimatauglich, in ihnen ist es viel zu heiß. Und sie sind klein. Dazu muss man wissen, dass die Tradition der Großfamilie in Amazonien sehr stark ausgeprägt ist. Wenn da Verwandte auf Besuch kommen, gibt es viel zu wenig Platz. Das ist ein Stich ins Herz der Kultur.
Ist das Thema Klimaschutz, das derzeit ganz Europa bewegt, in Brasilien nicht auf der Agenda?
Doch, vor allem die jungen Leute wissen sehr wohl, dass es um ihre Zukunft geht. Doch sie werden nicht gehört, da geht man über Leichen.
Für diesen Oktober hat Papst Franziskus eine Synode für Amazonien, also eine Versammlung von Geistlichen und Laien, einberufen. Sie gehören zum Vorbereitungsteam. Was erwarten Sie sich von dem Treffen?
Zuerst einmal geht es um eine Anklage. Darum, aufzuzeigen, was ist und was passiert. Und dann geht es darum, zu debattieren, inwieweit die Kirche die Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung wahrnimmt. Insofern wird die Synode zum Lackmustest für die Kirche und die Gesellschaft.
Wird es auch um priesterliche Fragen gehen? Denn der Mangel an Hirten ist ja auch in Brasilien eklatant.
Ja. Wir haben in Amazonien 800 Gemeinden und dafür 30 Priester. In gewissen Gemeinden wird nur ein bis drei Mal pro Jahr Eucharistie gefeiert, was für uns Christen der Höhepunkt des Glaubens ist. Zugleich sind Pastoren von evangelikalen Kirchen sehr wohl vor Ort (die in ganz Lateinamerika regen Zulauf erfahren). Für dieses Problem muss eine Lösung gefunden werden.
Was schwebt Ihnen da vor?
Wir müssen den Zugang zu Weiheämtern ändern. Und da muss die Priesterweihe auch Verheirateten zugänglich gemacht werden – weil sonst die katholischen Gemeinden verschwinden.
Sollen auch Frauen Priesterinnen werden dürfen?
Zwei Drittel von unseren Gemeinden werden von Frauen geleitet. Sie leiten jeden Sonntag den Wortgottesdienst, halten die Predigten, machen Tauf-, Firm- und Ehevorbereitungen. Kurz: Sie haben das Vertrauen der Gemeinden. Muss da unbedingt ein Mann kommen? Ich denke nicht.
Aus all Ihren Worten dringt ein ungebrochenes, leidenschaftliches Engagement. Woher nehmen Sie die Kraft?
Wenn Leuten der Ast abgesägt wird, auf dem sie sitzen, ist es Aufgabe jedes Christen, dagegen anzugehen. Und als Bischof und Priester muss man für das Volk da sein, auch außerhalb der Kathedrale. Solange mir der liebe Gott die Energie schenkt, werde ich weiter kämpfen.
Anlässlich der Synode für Amazonien erscheint im August das Buch von Erwin Kräutler „Erneuerung jetzt“, in dem er Impulse zur Kirchenreform aus Amazonien darlegt. Tyrolia-Verlag, 160 S., 14,99 Euro.
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