In Wahrheit fehlt in Tunesien genau das, was auch in Europa fehlt. Eine Debattenkultur – Diskussionen, in denen auch die „andere“ Meinung akzeptiert und respektiert wird. Belabbes Benkredda hat das verstanden. Der Deutsch-Algerier hat deshalb die Initiative „Munthara“ gegründet, eine Art Forum für die Arabischen Welt. Die TV-Debatten, an denen in der vergangenen Woche 24 der 26 Präsidentschaftskandidaten Tunesiens teilnahmen und die auf allen Sendern gleichzeitig ausgestrahlt wurden, gehen auf Benkreddas Initiative zurück.
Das Format, von dem Österreich aktuell schon fast übersättigt ist, ist in der Arabischen Welt völlig neu. Dementsprechend groß war das Interesse: Rund vier der gut elf Millionen Einwohner Tunesiens haben die drei Shows gesehen.
„Wir haben uns in den vergangenen acht Jahren um Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und freie Wahlen bemüht“, erklärt Initiator Benkredda dem KURIER. Das sei nach der Revolution 2011 und dem Sturz von Präsident Ben Ali auch essenziell gewesen. „Doch was bis jetzt fehlte, war die kulturelle Dimension. Die schönsten Institutionen nutzen nichts, wenn das Volk sich nicht interessiert.“
Die TV-Shows – in denen Wähler Fragen und Anregungen einbringen konnten – könnten einen wesentlichen Beitrag zu den Wahlen leisten. Denn es wird eine extrem niedrige Wahlbeteiligung erwartet. Laut Umfragen fühlen sich junge Menschen schlecht bis überhaupt nicht im politischen System repräsentiert. 70 Prozent der Tunesier haben keinen Bezug zu einer politischen Partei. Bei den letzten Lokalwahlen ist nicht einmal jeder vierte Wahlberechtigte zur Urne gegangen.
Tod des Präsidenten
Die Präsidentschaftswahlen wurden auf den 15. September vorgezogen, nachdem der 92-jährige Staatschef Beji Caid Essebsi gestorben war. Jetzt muss – kurz vor den Parlamentswahlen im Oktober – auch der Präsident gewählt werden. Dieser hat in Tunesien nicht nur repräsentative Aufgaben. Zudem gilt er in der immer noch nicht ganz stabilen Demokratie nach dem Arabischen Frühling als Garant für die Einheit und für den politischen Diskurs.
Im Wahlkampf standen politische Programme nicht im Vordergrund. Dabei wäre es immer noch immens wichtig, etwa über die Wirtschaft zu sprechen. Stattdessen dominierten die Themen Geldwäsche, Korruption und Vetternwirtschaft.
Wahlkampf aus der Zelle
So kam es wohl auch dazu, dass Nabil Karoui Ende August verhaftet wurde. Der Gründer des größten privaten TV-Senders Nessma galt als einer der Favoriten für das Präsidentenamt. Doch nun muss der prominente Fernsehmanager von der Zelle aus wahlkämpfen – wegen angeblichen Steuerbetrugs.
Einem seiner größten Widersacher wird zumindest von Karouis Anhängern die Schuld dafür in die Schuhe geschoben: dem amtierenden Premierminister Youssef Chahed. Doch dieser betont, dass er nichts damit zu tun habe. Er hat sein Amt für den Wahlkampf ruhend gestellt, außerdem sei die Justiz in Tunesien unabhängig. Er habe keinen Einfluss. Doch Karoui bezeichnet sich – von der Zelle aus – als „politischen Gefangenen des Systems“.
Profitieren könnte von dem Streit Abdelfattah Mourou. Der Mitbegründer der gemäßigt islamistischen Ennahdha-Partei, die seit der Revolution bei Parlamentswahlen immer gut abschneidet, behauptet, sich für die Wirtschaft des Landes einsetzen zu wollen. Medien rechnen Mourou gute Chancen aus. Doch offizielle Umfragen sind in den letzten Wochen vor der Wahl verboten. Weil die Beeinflussung von Wählern befürchtet wird.
In jedem Fall wird es wohl eine Stichwahl im November geben, glauben tunesische Journalisten – also nach den Parlamentswahlen.
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