Politologe: „Erdogan schwimmen Felle davon“
Machtbewusst“, „skrupellos“, mit Hang zur „Paranoia“, aber auch „gewieft“ – so beschreibt der Politologe Cengiz Günay den türkischen Premier Tayyip Erdogan. Im KURIER-Interview erläutert der Experte, der am Österreichischen Institut für Internationale Politik forscht, die Hintergründe des Korruptionsskandals und spricht über die Zukunft des Regierungschefs.
KURIER: Wird Erdogan die Krise politisch überleben?
Cengiz Günay: Er ist schwer angeschlagen, viele sind von ihm enttäuscht, andere fühlen sich verarscht, weil Erdogans AK-Partei immer als saubere Kraft auftrat. Ihm schwimmen die Felle davon, und er hat offenbar nicht mehr alles unter Kontrolle. Das macht ihn noch wütender und seine Wortwahl noch skrupelloser. Seine Gegner beschimpft er als Vaterlandsverräter und hinter jeder Kritik ortet er ein ausländisches Komplott. Das ist eine Art von Paranoia.
Selbst in der AK-Regierungspartei rumort es, es gab Austritte.
Ja, einige kehren Erdogan den Rücken. Wir sehen ein Auseinanderbrechen einer politischen Bewegung. Es könnte leicht sein, dass sich die AKP spaltet, vielleicht sogar in mehrere Flügel.
Das wäre aber dann doch das Aus für den Premier.
Da wäre ich vorsichtig. Erstens geht das Ganze nicht so schnell. Und zweitens darf man Erdogan nicht zu schnell abschreiben, er ist ein gewiefter Fuchs. Ein erster Gradmesser seiner Popularität nach der Korruptionsaffäre sind die Kommunalwahlen im März. Was man zudem nicht vergessen darf: Er hat eine treue Wählerschaft, die mit ihm durch dick und dünn geht. Außerdem werden viele ihre Hoffnung weiter in die AKP setzen, solange die Wirtschaft nicht abstürzt. Erdogan selbst wird jedenfalls nie aufgeben.
Was sind seine Pläne?
Das ist schwer zu sagen. Ursprünglich wollte er Staatspräsident mit weitreichenden Vollmachten werden. Doch die dafür nötige Verfassungsänderung brachte er nicht durch. Manche meinen, Erdogan könnte 2014 dennoch für das höchste Amt kandidieren, und der jetzige Staatschef Abdullah Gül könnte Premier werden – gleichsam das russische Modell Putin/Medwedew.
Kommen wir zur aktuellen Korruptionsaffäre, in die zumindest drei Söhne ehemaliger Minister involviert sind. Überrascht Sie das Ausmaß?
Nein, Korruption war in der Türkei immer schon Bestandteil des politischen Spiels. Überrascht hat mich, dass so lange nicht darüber berichtet wurde – immerhin ist der Staat der größte Grundbesitzer. Bei Vergaben von Bauflächen gibt es ganz viele Möglichkeiten, mitzukassieren. Aber offenbar saß die Regierung so fest im Sattel und war der Druck auf die Medien so groß, dass sich da niemand drübergetraut hat. Faktum ist, dass viele sehr, sehr reich geworden sind – im engsten Umfeld von Erdogan.
Warum kommt die Affäre gerade jetzt ans Tageslicht?
Die Anhänger des Predigers Fethullah Gülen (er lebt in den USA) sind im Polizei- und Justizapparat immer einflussreicher geworden und sahen sich offenbar stark genug, die Kampagne zu starten. Sie trafen die
Regierung am falschen Fuß. Weil man sich so unantastbar gefühlt hat, hatte man keine Vorkehrungen getroffen. Und so schaut das Krisenmanagement aus: mies.
Aber früher kooperierten die beiden islamischen Lager doch. Wie kam es zum Bruch?
Das weiß niemand genau. Erstmals so richtig sichtbar wurde dieser, als Gülen-nahe Staatsanwälte vor einem Jahr den türkischen Geheimdienstchef einvernehmen wollten, dieser ist ein enger Vertrauter Erdogans. Ideologisch freilich sind sie beiden Lager nicht weit voneinander entfernt. Ich denke, es geht hier um Machtpolitik – und Geld.
Wie stark ist das Gülen-Netzwerk in der Türkei?
Auch das ist unklar, weil sich die allermeisten nicht deklarieren. Alles ist sehr intransparent. Die Organisation erinnert ein wenig an die Freimaurer – nur straffer organisiert. Sie legt großen Wert auf Bildung und will eine islamische Elite heranzüchten. Die Absolventen solcher Schulen oder Kurse fühlen sich dann miteinander verbunden und unterstützen sich gegenseitig.
Schwere Auseinandersetzungen in Istanbul:
Nach den Protesten vom Vorabend blieb es am Samstag zunächst ruhig in den großen Städten der Türkei. In der Nacht auf Samstag war die Polizei mit großer Härte gegen Demonstranten im Zentrum von Istanbul vorgegangen. Die Sicherheitskräfte setzten schon vor Beginn der Demonstration Wasserwerfer, Tränengas und Plastikgeschoße ein. Demonstranten forderten in Sprechchören den Rücktritt der Regierung. Sie skandierten außerdem wie bereits bei den Protesten im Sommer: „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“.
Die Regierungsgegner hatten wegen des Korruptionsskandals zu einer Demonstration auf dem Taksim-Platz aufgerufen, den die Polizei weitgehend abriegelte. Auf der dorthin führenden Einkaufsmeile Istiklal Caddesi kam es zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten. Auch aus Ankara und Izmir wurden Proteste gemeldet.
Der Skandal erschüttert die Türkei seit zehn Tagen und hat zum Rücktritt von drei Ministern geführt. Erdogan hatte am Mittwoch zehn seiner 26 Kabinettsposten neu besetzt. Ermittelt wird wegen Schmiergeldzahlungen für illegale Baugenehmigungen und ob Handelssanktionen gegen den Iran unterlaufen wurden. Erdogan hat die Ermittlungen als „dreckige Operation“ gegen seine Regierung bezeichnet.
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